Orgien und Mysterien

Hermann Nitsch – Strukturen. Die derzeitige Sonderausstellung des Wiener Leopoldmuseums befasst sich, wie der Name bereits verrät, mit der konzeptuellen Seite des Aktionisten-Werks. Gezeigt werden Architekturzeichnungen, Kompositionen und Partituren musikalischer Werke, sowie verschiedenste druckgraphische Arbeiten des Ausnahmekünstlers.

Zweites Kellergeschoß – wie sollte es auch anders sein. Die aktuelle Hermann Nitsch  Ausstellung mit dem vielsagenden Titel „Strukturen“, hat man wohl nicht ganz unbeabsichtigt in das unterste Kellergeschoß des Wiener Leopoldmuseums „verbannt“.

Mich erfasst ein seltsam mystisches Gefühl, als sich der Lift in Bewegung setzt. Ein Gefühl als ob man eine Reise antritt. Eine Reise in eine Welt der sinnlichen, oftmals bis zur Ekstase gesteigerten Erfahrung. Ekstase. Sinnlichkeit. Schlagwörter, die auf kaum ein Werk so zutreffen wie auf jenes des Aktions-Künstlers, der sein Blut-triefendes Wirken in den 1960er Jahren begann und über Jahrzehnte hinweg seine Idee des Gesamtkunstwerks, bestehend aus Theater,Malerei und Musik im aktionistischen Rahmen konsequent verfolgte. Der Idee des Orgien-Mysterien-Theaters, kurz O.M. Theater, ist auch diese Ausstellung gewidmet.

Staunend stehe ich vor einem riesigen, roten Schüttbild, über dem ein Satz geschrieben steht: „Die tiefste Erfahrung und Erfüllung des Seins ist der Zustand Liebe.“ Ein schöner Satz, der nicht etwa von Christus oder Mahatma Gandhi stammt, sondern vom Meister selbst. Hermann Nitsch dokumentierte sein künstlerisches Wirken in zahlreichen Schriften und Büchern und schuf so ein umfangreiches philosophisches Beiwerk zum besseren Verständnis seiner Arbeiten. Bekannt geworden mit den Wiener Aktionisten der 60er und 70er Jahre, Otto Muehl, Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler, war es die Provokation, die Nitsch zum Liebling der Avantgarde und zum Hassobjekt von Kirche,Staat und Teilen der Moralgesellschaft werden ließ. Dennoch entwickelte er sein O.M. Theater stets weiter, veranstaltete als Höhepunkt seines bisherigen Wirkens ein 6-Tages-Spiel und inszenierte am Wiener Burgtheater. Das enfant-terrible der heimischen Szene scheint angekommen zu sein im Reich der breiten Akzeptanz. Durch die weiteren Ausstellungsräume ziehen sich zahlreiche Architekturzeichnungen, in denen Nitsch fiktive Orte für seine Aktionen, nach organischem Vorbild entwirft. Erstaunlich bemerkenswert auch seine Druckgrafischen Arbeiten, die durch besondere Präzision und technische Raffinesse bestechen. Gezeigt werden auch verschiedene Konzepte, Skizzen und Entwürfe zu seinen Inszenierungen und Aktionen. Anfangs zurückhaltend, später jedoch konsequent, verfolgte Hermann Nitsch die Dokumentation seiner Aktionen durch Foto und Filmaufnahmen, von denen einige ausgewählte Exponate zu sehen sind.

 

Welch umfangreiche Konzeptualisierung hinter seinen Werken steckt zeigt vor allem der Umstand, dass Nitsch, in Unkenntnis der traditionellen Notenschrift, eine eigene, umfangreiche Notation entwickelte, um seine Kompositionen für die Nachwelt festzuhalten. „Ich kenne weder Anfang noch Ende – Ewigkeit und Unendlichkeit sind mein Glaube.“ Dass es mit einem zufällig entstandenen Schüttbild im Falle Nitschs eben noch nicht getan ist, führt diese Ausstellung eindrucksvoll vor Augen. Hermann Nitschs O.M. Theater könnte in hundert Jahren genauso wiederaufgeführt werden – ein Verdienst seiner akribischen Aufzeichnungen, Konzepte und Partituren.

Nach meiner Reise ins Kellerreich der Sinnlichkeit blieb mir noch die verhältnismäßig liebliche Ausstellung „Wien um 1900“ im obersten Stock zu sehen. Wenngleich Klimt und Co. zu Lebzeiten ebenso provozierten, wie ihr Kollege 60 Jahre später, das oberste Stockwerk wird dieser wohl noch länger nicht erreichen. Vielleicht auch richtig so.

Die Ausstellung „Hermann Nitsch – Strukturen“ ist noch bis 30.01. im Wiener Leopoldmuseum zu sehen.