Selbstverwirklichung- ein Hirngespinst oder der „neue Wert der Gesellschaft“?

Früher 15 Jahre Koch in der Provinz, jetzt Surflehrer auf Hawaii. Alleinerziehende Mutter mit 4 Kindern hat ihren Job hingeschmissen, arbeitet jetzt „selbstständig“ in ihrer neuen Werbefirma von zu Hause aus. 16-Jährige hat nach ihrer tiefen Sinnkrise, den „Sinn des Lebens“ in Spanien  auf dem Jakobsweg gefunden.

So oder ähnlich liest man die Schlagzeilen in den Zeitungen und Illustrierten heutzutage. Wir, die Leser, fühlen uns oft schon peinlich dabei berührt, wenn wir „noch immer“ in unserem 0815 Brotjob vergammeln und noch immer nicht unsere wahre Berufung wirtschaftlich umgesetzt haben. Das Leben scheint mit unfairen Karten zu spielen: Planung vs. Intuition. Alles nur Geldmacherei? Alles nur initiiert von der Wirtschaft und den geldgeilen Bossen, die zu den weltberüchtigten 13%  der Weltmacht im Hintergrund gehören, und mit uns Marionetten spielen?! Man hat zwar keine handfesten Beweise, aber der Verdacht liegt doch sehr nahe. Warum sollte „Selbstverwirklichung“ sonst derzeit so eine tragende Rolle in unserere Gesellschaft spielen wollen?

Früher war nicht alles besser, aber anders. Der Job war da, um Geld nach Hause zu bringen, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu stillen, wie Essen, Trinken, Bett und Dach über den Kopf. Je besser es der Wirtschaft ging, desto mehr stiegen die Bedürfnisse der Menschen, heute so wie damals. Daran hat sich bislang nichts geändert und wird sich auch nichts ändern.  Im wahrsten Sinne, der „Brotjob“, war ein Job, den man hatte, besser als keinen. Egal ob man ihn gerne machte oder nicht. Arbeitstrott bis zum Pernsionsende oder nicht. Job ist Job, Sicherheit für einen Selbst, Familie und Wohlstand. Zu Hause wurde in der freien Zeit wieder nur gearbeitet, wer „nichts zu tun hatte“, dem wurde schon etwas von den Eltern angeschafft. Für Gedanken zur „Selbstverwirklichung“ blieb dabei keine Zeit, und wann, dann wurde sich auf die altbekannten Werte des Glaubens und der Familie berufen. Wer sich dort engagierte, fand seine  Berufung von ganz alleine.

Heute sieht die Sache schon anders aus. Die Wirtschaft hat sich geändert, Brotberufe gibt es noch immer. Berufung und Hobbies auch. Brotjob, Alltagstrott mit geilem Hobby vs. Berufung und geringem Gehalt, das monatlich  gerade noch ausreicht, um über die Runden zu kommen. Selbstverwirklichung kämpft um den besseren Wert in der Gesellschaft und wirkt auch so, als ob sie ihn erhalten würde. Wir arbeiten zwar noch immer, aber haben trotzdem mehr Zeit für kopfzerbrecherische Gedanken, die das Abwägen zwischen Brotjob und wirklicher Berufung nicht leichter machen. Ein Gedankenwirrwarr und Achterbahnfahrt der Gefühle erschweren uns Entscheidungen zu treffen. Somit haben wir zwar wirtschaftlich gesehen ein breiteres Spektrum an beruflichen Auswahlmöglichkeiten (Weiterbildungen, Studien, Aufschulungen, Umschulugen, Neustart, Selbstständigkeit, Auslandserfarhungen,…), das es uns aber schwer macht den Wald unter diesen ganzen Bäumen noch zu sehen. Die einst sehr selbstverständlichen (oft auch aufgezwängten) Werte von Glaube und Familie geraten in den Hintergrund und somit suchen wir die Selbstverwirklichung im Job.

Aber kann man sich in einem Job selbst verwirklichen?
Diese Frage ist eine sehr wichtige! Denn was erwarten wir eigentlich von unserem Job? Er soll uns glücklich machen, da wir dort mehr Zeit, als zu Hause verbringen, mehr Zeit als teilweise mit Familie, Freunden und im Glauben? Kann das denn überhaupt funktionieren? Muss das denn unbedingt funktionieren?! Die Wirtschaft würde uns an dieser Stelle ein kräftiges „JA, na klar, alles ist heutzutage möglich, aber nix is fix!“ entgegenschmettern. Die Fake-Wahrheit, der wir gerne Glauben schenken mögen, hat aber auch ihre Tücken parat:

So hetzen wir von einem Selbstfindungs-Seminar zum nächsten, machen Kurse für „potenzielle Selbstständige“, haben Burn-Out oder scheffeln immer nach mehr und mehr Geld um Wertschätzung und Wohlstand zu garantieren. Es ist nicht leicht in einer Ellbogengesellschaft wie dieser seiner Intuition zu folgen, seine Berufung zu finden, die nicht immer nur im Job liegen muss, und nebenbei auch noch individuell zu sein. Das derzeitige Bildungssystem will uns alle „gleich“ machen, trotzdem verlangt die Zukunft individuelle Lösungen auf zukünftige Probleme, die wir aber noch nicht wissen können. Dieser Spagat kann auf Dauer nicht ohne Folgen funktionieren. Somit schießen wie aus allen Ecken und Enden viele einzelne Firmen von Privatpersonen, die sich selbstständig gemacht haben, einer fast 65h Woche beiwohnen und schließlich  „ihre Berufung gefunden“ haben – und sie auch dementsprechend umsetzen. Bemerkenswert, neidisch und mit voller Bewunderung blickt man dorthin, zu den Leuten, die denn Mumm und Mut aufbringen, um „ihr Ding durchziehen“. Das hätte man doch selber gerne. Sein eigener Boss sein und mit leichtem Handspiel seine Eigenschaften zum maximalen Potenzial ausschöpfen, nebenbei spielend leicht Kohle verdienen. Wenns doch wirklich nur so einfach wäre…. Nach außen wirkt es immer easy-cheesy, dahinter wird  die schwere organisatorische, logistische Arbeit kaum gesehen oder sichtbar gemacht. Privatvermögen, so manche Beziehungen und die eigene Familie leiden ebenfalls darunter. Zumindestens  die ersten zwei Jahre, bis sich Erfolg einstellt. Hat man es doch geschafft, muss man auf Beständigkeit, Innovation, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen setzen und bei so manchem Medienzirkus mitspielen.

Individualität um jeden Preis?
Spielen wir das „perfekte Selbstverwirklichungs-Szenario“ mal übertrieben durch: Wenn jeder Mensch in dieser Gesellschaft in diesen unsicheren, wirtschaflichen Zeiten sich selbst verwirklichen würde, seine Eigenschaften und Potentiale maximal ausschöpfen könnte, würden wir dann alle glücklicher sein? Würden all unsere Probleme und Selbstverwirklichungssorgen vom Tisch gefegt sein?

Wäre dann nicht auch wieder Ellbogengesellschaft im anderen Sinne? Individiuum gegen Individiuum. Ständige Abkupferung und Weiterentwicklung von Ideen- dauernde Innovationen-  alles besser, geiler, größer, flexibler machen zu wollen. Zu viel Druck, zu viel Flexibilität, zu wenig Struktur und Ordnung.  Sind das dann unsere neuen Maxime?! Laut Charles Darwins Evolutionstheorie setzt sich doch sowieso wieder der Stärkere mit seinen Ideen durch, oder? Wahrscheinlich käme dann wieder die Kehrtwende und die Menschen würden sich wieder nach den alten, „einfachen“ Regelstrukturen sehnen, mit allen Pipapos  und Klauseln. Alltagstrott und Geld auf die Hand für 0815-Arbeiten, ihren alten Brotjob halt. Ohne ständiges „kreativ sein müssen“ und Gedankenkarussell im Kopf.

Eine Künstlerin sagte mir Mal, dass jede Generation ihre Aufgabe hätte. Die Generation nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Aufgabe des Wiederaufbaues des Landes.  Die Generation in den 70er Jahren die Aufgabe ,für Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu kämpfen. Doch was ist unsere Aufgabe in dieser Generation? Der Generation maybe, der „Facebook“- Generation oder auch der Generation y? Alle möglichen Freiheiten, die man haben könnte, haben wir (fast). Eine Wohlstandsgesellschaft, die weit über den Grundbedürfnissen hinaus nach irgendeinen Wert strebt, für den es sich lohnt  zu kämpfen. Heißt dieser Wert „Selbstverwirklichung“? Die Anzahl an Milchsorten garantiert nicht das notwendige Finden der Lieblingsmilchsorte, bildlich gesprochen .Aus eigener Erfahrung und auch im Bekanntenkreis gibt es immer mehr Menschen, die sich den Schädel zermartern und mit ihrem Job nicht mehr zufrieden sind.

Fakt ist, „Selbstverwirklichung“ ist für jeden etwas anderes. Für den einen ist es die Berufung im Job, für den anderen außerhalb. Manchmal reichen schon ein neues Hobby oder neue Bekanntschaften aus, um Dinge aus anderen Blickwinkeln zu sehen. Ein Tangokurs, die neue Pizzeria ums Eck ausprobieren oder doch den netten Typen im Café anquatschen. Oft geht es nicht mehr, und es ist besser seinen Job hinzuschmeißen, wenn die Geduld am Ende ist, und neue Wege zu gehen.

Wer weiß? Neben all dem „Selbstverwirklichungswahn“ haben wir, denke ich, vergessen, auf unsere Intuition und unserer Gefühle  zu hören. Denn egal wie unsicher die Zeiten wirtschaftlich auch sein mögen, Vertrauen in uns selbst und auf unsere Intuition kann uns keiner nehmen und haben sich noch immer durchgesetzt. Heute so wie damals. Zeit braucht ihre Zeit. Statt dem ständigen krampfhaften Suchen nach Lösungen, einfach mal vertrauen. Das hat schon so manches Wunder bewirkt.

Ich, ein Mädel aus Linzer Umgebung schreibe liebend gerne Konzert-Reviews, Filmkritiken und so manch anderes über Kultur, Leute und dem ganzen Drumherum. Wortspielereien mit Gefühlen, die echten Tatsachen und Stimmungen sind mein Metier, in dem ich mich am Wohlsten fühle. Kultur wie sie leibt & lebt im Linzer Raum und sonstwo, am Puls der Zeit, niemals vergessen, sondern dokumentiert, hier auf subtext.at Das ist meine Welt, ahoi!