DRANGSAL: 4 Grad wärmer

In Zeiten, in denen sich die Gesellschaft mit großen sozialen wie kulturellen Wandlungen konfrontiert sieht, steigt das Verlangen, sich mit Vergangenem zu beschäftigen. Nostalgie ist in Zeiten der Instabilität ein äußerst wertvolles Gut. Etwas Ehemaliges hat Hochkonjunktur, weil der Typus Mensch zum Verklären neigt und gern beschönigt und glorifiziert. Unsicherheiten sind verpönt. Daher flüchten wir dahin, wo wir uns leicht tun – in die Vergangenheit.

Dem Material auf „Harieschaim“, dem Debütalbum von Drangsal, wohnt ebenfalls eine angenehm zeitlose Anmutung inne. Es sind alte Helden wie The Smiths, Joy Division, The Cure und Depeche Mode, die klanglich alte Erinnerungen wecken. Wer derzeit wieder in solche Richtungen denkt, von aktueller Musik gelangweilt ist und in seiner alten Plattensammlung nach den Kategorien Post-Punk & Neue Deutsche Welle wühlt, muss Drangsal wahrhaftig für den Messias halten. Der ambivalenteste Musiker des Jahres hört eigentlich auf den Namen Max Gruber und ist der Grund, weshalb sich New Wave-Nostalgiker freudig die Ohren reiben.

Dieses Portfolio hat wie ein Schwamm viele Eindrücke aus den 80ern und frühen 90ern aufgesaugt. Drangsal hat diese Art von Musik in seiner Jugend lieben gelernt und seitdem nie losgelassen. Objektive Kritik ist schwer möglich, wenn wie hier Herzblut in New Romantics-Manier gleich eimerweise vorhanden ist. Ein facettenreiches, herrlich groovendes und poppiges Album, vorwiegend auf Englisch gesungen aber auch mal auf Deutsch, wurde mit Hilfe von Produzent Markus Ganter (Casper, Sizarr, Tocotronic) geschaffen, aus der ländlichen und provinziellen Tristesse der Jugend heraus. Der Titel etwa ist eine Anspielung auf die erste urkundlichen Erwähnung von Herxheim bei Landau/Pfalz. Gruber mimt den rebellische Stubenhocker und fährt damit gut. Der Stolz des Außenseiters. Musik als Fluchtmittel.

Cover

Wenn Forscher und Wissenschaftler sogar soweit gehen und behaupten, Nostalgie mache glücklicher, hilfsbereiter und erhöht sogar die geschätzte Raumtemperatur um vier Grad, ist das zumindest eine Erkenntnis, die man sich vor Augen halten sollte. Rückwärtsgewandtheit hat also auch schöne Seiten, wenn man denn nicht zur Gänze feststeckt. Das wohlige, von einer warmen Soundästhethik geprägte „Harieschaim“ sorgt jedenfalls auch blendend dafür, um es sich im Hier und Jetzt mit dem ewig Gestrigen bequem zu machen.

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