Step into the light, so bright sometimes: Betrachtungen zu HARRY STYLES’„Fine Line“

Kommt dir das bekannt vor? Du wirfst zum wiederholten Mal einen Blick zurück auf das vergangene letzte Jahr und stellst fest: Da war doch noch was. Kurz vor Ende, kurz vor Ladenschluss, erschien Englands derzeitig größter Pop-Export zurück auf der Bildfläche. Neben Brexit und Megxit gibt es erfreulicherweise auch Erfreuliches über Großbritannien zu berichten. Welcome back, Harry Styles.

© Sony Music

Harry Styles hat vor etwas mehr als einem Monat sein mit Spannung erwartetes zweites Album veröffentlicht. Ja, mit Spannung erwartet. Eine gern aus dem Ärmel gezogene Floskel, die oft herhalten muss und inzwischen wirklich noch selten der Wahrheit entspricht. Mit „Fine Line“ geht der Abnabelungsprozess in die nächste Runde. So überzeugend hat den Sprung aus einer Boyband-Sackgasse einst nur Robbie Williams hinbekommen, was inzwischen mehr als zwanzig Jahre zurückliegt.

„Fine Line“ fühlt sich wie ein zweites Debüt voller Kurzweil für eine Zielgruppe an, deren Aufmerksamkeitsspanne stetig am Sinken ist. Der britische Nachwuchsbarde macht sich außerdem daran, möglichst weitere Altersgruppen für sich einzunehmen. Analoge Klänge in digitalen Zeiten geben den Ton an und wo sämtliche Solokünstler mit Features weitermachen, legt sich Styles eine richtige Band zu. Mit Frauenquote. Der 25-Jährige trägt dabei modische weite Hosen, schicke Hemden (aufgeknöpft!) und Schuhe mit Absatz wie einst Prince. Oder ein Tutu. Männlichkeit macht vor ein bisschen rosa Tüll ja nicht halt. Genderfluid eben und LGBTQ unterstützend, immer hemdsärmelig und mit dem Charme eines Spitzbuben dargeboten.

Seit seinem Debüt vor ungefähr drei Jahren ist Styles so mutig, ganz leger die Grenzen seiner Möglichkeiten als ehemaliges One Direction-Mitglied auszuloten, in bowie-esker Manier und mit Potenzial zu echter Größe in den Pop-Himmel zu wachsen. „Fine Line“ findet eine zufriedenstellende Mitte zwischen Abstraktion und Zugänglichkeit. Manchmal will es sogar richtig kunstvoll sein. Very british. Dass Styles mittlerweile in den USA lebt, lässt die Platte noch ambivalenter erscheinen.


Manchmal verwirrt Styles mit recht eigenwilligen Melodieführungen, wenn seine luftige Hybriden aus warmherzigen 70s Funk und 80s Pop, Glam und Cali-Vibes um die Ecke kommen. Der Wunsch, künstlerisch sinnstiftende Pop-Musik mit individueller Note zu veröffentlichen, wird auf „Fine Line“ ansehnlich miteinander verwebt. Vorsatz oder Versehen?

Ist der glamrockige, Florence Welch-artige Opener „Golden“ verklungen, der vom Gegenüber fasziniert ist wie güldenes Herbstlaub im Altweibersommer, folgt mit dem beschwingten, an Mark Ronson erinnernden „Watermelon Sugar“ ein weiterer Euphorieschub und ein Immer-wieder-hören-woller. Überraschungen wie das hippieeske „Sunflower, Vol.6 gibt es auch, was beweist, dass Styles diese Platte doch sehr gewissenhaft zusammengestellt hat. Obwohl nichts aus dem Rahmen fällt, ist vieles erlaubt. Pianogeklimper und Akustisches über modernem Beats-Unterbau? Klar, wie in der verführerischen, gleich beide Geschlechter einnehmenden Single „Lights Up“. Im Video dazu darf gegen die Einsamkeit, die sogar Celebrities ereilt, gekuschelt werden. Jack Johnson dient als Pate im Geiste bei „Cherry“, vor Queen verneigt sich „Treat People With Kindness“ und der Titelsong fabriziert im Äther schwebenden Bon Iver-Folk.

Liebeskummer und Laissez-faire. Sehr hip. Sehr hübsch. Sehr stilbewusst. Während „Harry Styles“ eine Platte zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und mit „Sign Of The Times“ einen Song in Petto hatte, der mit seinen fast sechs melancholischen Minuten überraschend den Zeitgeist traf, wildert „Fine Line“ mit Gusto und allerlei Frucht-Metaphern in der Popkultur-Schatzkiste. Styles sieht sich als Erbverwalter von David Bowie, Joni Mitchell oder Stevie Nicks, was immerhin für eine anständige Musiksozialisation gesorgt hat.

Das Besondere an Harry Styles auf einen Nenner zu bringen, ist dennoch nicht leicht. Authentizität hat der äußerlich tätowierte, innerlich feministisch motivierte Sänger zur Genüge. Die haben andere Sänger aber auch. Was keiner hat, sind die einzelnen Bestandteile, die hier in der Summe des Öfteren tadellos funktionieren. Klanglich das Beste von früher mit dem aktuellen Angesagten von heute. Wenig Falsches, viel Richtiges. Gut getan hätte es der Platte, wenn Styles den ein oder anderen schwächeren Song („Adore You“) gestrichen und dafür den übrigen noch mehr Raum und Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Dennoch erfreulich, dass er es wirklich hat: Das gewisse Etwas, das seine Musik schillern lässt. Wer aus seinen Einflüssen ein so gutes Album zusammenschraubt, der hat das Klassenziel erreicht.

Tracklist:
01. Golden
02. Watermelon Sugar
03. Adore You
04. Lights Up
05. Cherry
06. Falling
07. To Be So Lonely
08. She
09. Sunflower Vol.6
10. Canyon Moon
11. Treat People With Kindness
12. Fine Line

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Fotos: Sony Music, NBC

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