„Ich beschloss ganz einfach Träumeerzähler zu werden“
Ludwig Hirsch (1946-2011): Ein Nachruf.
Ich weiß noch genau, ich war vielleicht fünf Jahre alt,
da hab‘ ich mir von Mutter einen Strumpf über den Kopf gezogen,
bin damit runter zur Milchfrau und hab‘ gebrüllt:
„Fruchtjoghurt oder Leben!“
Sie haben mich zur Strafe den ganzen Tag in mein Zimmer
gesperrt,
haben die Vorhänge zugezogen, die Glühbirne aus der Fassung
geschraubt
und mich mit der Dunkelheit und einer Fliege,
die da irgendwo zwischen Vorhang und Fenster herumlärmte,
allein gelassen.
Ich hab‘ mich hing’setzt und hab‘ begonnen, aus meinen Träumen
einen Turm zu errichten.
Einen Turm, bis zum Himmel hoch.
Und ich und meine Freunde, der Franz, der Jakob, der Thomas und
auch die kleine Hildi,
wir zogen durch die Straßen und riefen alle Kinder der Welt
zusammen und luden sie ein,
mit uns in den Turm zu ziehen. Ja, und das taten sie dann auch.
Und wir sprachen alle die gleiche Sprache, lebten in Frieden,
waren frei und glücklich bis zum Himmel hoch, und niemand konnte
uns stören dabei,
denn vor dem großen Eingangstor war eine gewaltige,
feuerspeiende Fliege postiert,
die uns beschützte.
Und ich weiß noch genau, plötzlich polterte mein Vater ins Zimmer,
mit seinen schwarzen, schweren Schuhen, die er immer trug.
Er riß die Vorhänge auf, schraubte die Glühbirne in die Fassung,
erschlug die Fliege und rief: „Ausgeträumt mein Sohn! Raus!“
Da fiel mein Turm in sich zusammen, und alle Kinder der Welt
waren wieder,
wie auf einen Schlag, über die ganze Erde zerstreut,
und keiner verstand mehr die Sprache des anderen.
Und ich ging runter auf die Straße, traf dort den Franz, den Jakob,
den Thomas
und die kleine Hildi und erzählte ihnen meine Traumgeschichte.
Und an diesem Nachmittag beschloss der Franz, nicht
Verhaltensforscher,
sondern Ziegelhersteller, der Jakob nicht mehr Astronaut, sondern
Technischer Zeichner zu werden,
der Thomas beschloss, Architektur zu studieren, die kleine Hildi
wollte sowieso immer Maurer lernen,
und ich beschloss, ganz einfach Träumeerzähler zu werden.
Und wir schworen uns hoch und heilig: „Bald, sehr bald bauen wir
einen Turm. Einen Turm, bis zum Himmel hoch!“
Der 1946 im steirischen Weinberg geborene Liedermacher Ludwig Hirsch studierte zunächst Grafik an der Hochschule für Angewandte Kunst ehe er zur Schauspielerei wechselte. 1978 startete er, ermutigt durch die damaligen Erfolge österreichischer Liedermacher, seine Musik Karriere. Sein Werk umfasst über 20 Alben, mehrere Compilations, lyrische Werke und auch vor der Kamera war Hirsch bis zuletzt aktiv gewesen.
Wenngleich Ludwig Hirsch seine Lieder in den Jahren 1991-1992 mit Band auf die Bühne brachte, so liebte er es, in klassischer Liedermacher-Manier aufzutreten. Mit seinem langjährigen musikalischen Weggefährten Johann M. Bertl, der es als Gitarrist glänzend verstand Hirschs geniale Theatralik zu unterstützen, gelang es ihm, einen Konzertsaal zum Träumen zu bringen. Die Leute zum Träumen zu bringen und gleichsam auf unglaublich pointierte Weise wieder zu wecken, das war Ludwig Hirschs künstlerische Einzigartigkeit.
Dunkelgraue Lieder wollte er singen und bewegte sich mit seinen Texten zwischen Morbidität und gleichsam unbändiger Lebensfreude. Geschickt verstand er es, alltägliche Anekdoten in theatralisch überspitzten Momenten gipfeln zu lassen. Da hackt die Freundin ihr Geschenkspackerl samt lieblichen Inhalts auseinander und da liegt dem genervten Gelsentöter schon einmal die Ehefrau im Schussfeld. Zynischer Witz, gepaart mit gesellschaftskritischen Momenten, das war Hirschs Erfolgsrezept.
Ludwig Hirsch war nie Austropop, er ging seinen eigenen Weg und den ging er konsequent. Starallüren und großes Medienspektakel waren dem kritischen Geschichtenerzähler stets ein Dorn im Auge. Dunkelgrau waren nicht nur viele seiner Lieder, nein dunkelgrau war auch der Novembertag im nebeligen Wien, als er seinem Leben, wie schon in „Komm, großer schwarzer Vogel!“ besungen, ein Ende setzte. Österreich verliert mit Ludwig Hirsch einen seiner größten Künstler, der stets Mensch geblieben war.
Und dann fliegen wir rauf, mitten in Himmel rein,
in a neue Zeit, in a neue Welt.
Und ich werd‘ singen, ich werd‘ lachen,
ich werd‘ „das gibt’s net“, schrei’n,
weil ich werd‘ auf einmal kapieren
worum sich alles dreht.
Texte: Ludwig Hirsch, Foto: Heidi Nerath