Filmreview: „L´abri/ The Shelter“
Shelter: ein Unterschlupf, für jedermann? Diese Frage versucht die Dokumentation des Filmemachers Fernand Melgar zu beantworten. Ist es in Europa, besonders in der Schweiz, leichter denn je, einen „Unterschlupf“ zu finden?
Das Publikum wird mit der Umgangsform in einem Obdachlosenasyl in Lausanne (Schweiz) konfrontiert. Jede Nacht stellen sich hunderte Asylwerber, illegale Immigranten, aber auch Obdachlose an. Nur wenige können sich den Luxus einer warmen Nacht mit Dach über den Kopf leisten, 5 Franc Suisse (Schweizer Franken) müssen sie dafür aufbringen. Der Rest der Anwerber wird von den Mitarbeitern des „Shelters“ willkürlich ausgewählt. Zuerst kommen Frauen und Kinder dran, Männer folgen, falls genug Platz ist. Platz ist generell ein eigenes Thema. Laut Gesetz dürften „nur“ maximal 45 Leute übernachten. Da die Mitarbeiter aber ein gutes Herz haben, wurde die Zahl auf 60 pro Nacht aufgestockt. Noch immer zu wenig, finden die draußen in der Kälte frierenden Obdachsuchenden.
Drinnen angekommen, bekommen sie frisches Bettzeug, Handtücher, gratis Shampoo und Essen. Am nächsten Morgen müssen sie bis 8 Uhr den Shelter verlassen haben. Jede Nacht dasselbe Ringen um einen Schlafplatz – Familien werden zerissen, Beziehungen gehen kaputt, ein Mischmasch an Nationalitäten, Sprachen, Kulturen und Schicksalen wird vereint in einem Raum, den Shelter. Die Bedingungen sind scheußlich hoch 10: „Gebundene Hände“ auf beiden Seiten, Tatendrang vorhanden, aber Umsetzungsmöglichkeiten der Mitarbeiter gleich null.
Tumulte. Proteste und Chaos lassen die Situation auf beiden Seiten prekärer werden. Ein neues System soll helfen: ein Ausweis für jeden Hilfesuchenden, der den Shelter besucht. Wenigstens eine mögliche Identität, für’s Erste. Übernachtungen werden wie Hotelzimmer vermietet, man kann sich glücklich schätzen, eine Bettreservierung in zwei Wochen erhalten zu haben – egal ob es heute oder morgen draußen minus 10°C hat.
Wer sich beschwert, kann gleich gehen. Es sind Umstände, die betroffen machen. Unverständnis und Arbeitsmoral der Shelter-ÜbernachterInnen und das Gesetz, das unmenschlich ist.
Fernand Melgar zieht das Publikum sofort an die Front des Grauens. Er spart nicht mit Gefühlen, aufgestauten Aggressionen und einer zweifelhaften menschlichen Moral. Versuche, die missliche Lage in Europa, im Speziellen in Laussanne – von vielen „Rolex-Schweiz“ genannt -, beidseitig darzustellen, sind ihm gut gelungen. Ein Film, der zum Nachdenken anregt, einzelne Schicksale zu Menschen werden lässt und die Sicherheit der Wohlstandsgesellschaft in Europa zu überdenken gibt.