Mass Effect Andromeda – Gelungener Neustart

Über fünf Jahre nach Mass Effect 3 kehrt einer der besten und beliebtesten Rollenspielserien der Welt wieder zurück. Der neueste Teil „Andromeda“ heißt ganz bewusst nicht Mass Effect 4, denn Commander Sheppard ist nicht mehr mit von der Partie. Neues Universum, neue Spielmechaniken, neuer Held, neue Crewmitglieder, neues Schiff und eine komplett eigenständige Geschichte. Ob dieser Wechsel gelingt und ob Entwickler Bioware wieder zu alter Stärke zurückfindet, klären wir im Test.

Nach dem Ende von Mass Effect 3 war nicht sicher, ob wir einen neuen Teil der sowohl bei Kritikern als auch Fans gefeierten Saga erleben dürfen. Nun ist Andromeda hier und ändert so einiges. Wie zu erwarten war, spielen wir nicht mehr mit Commander Sheppard, dessen Wohlbefinden, Achtung Spoiler, nach dem Ende von Mass Effect 3 immer noch ungewiss ist. Bioware musste also einen Neustart machen und sich von der alten Storylinie verabschieden. Obwohl der Titel seine Probleme hat, ist daraus ein sehr gutes Rollenspiel geworden, das aber hinter den Vorgängern zurückbleibt.

 

Mass Effect: Andromeda
Publisher: Electronic Arts
Entwickler: Bioware
Plattformen: PC, PS4, Xbox One,
Metacritic-Score: 74%
Preis: 53,99 / 59,99 €

 

Aufbruch in eine neue, alte Galaxie

Der neuste Teil der Reihe spielt  über 600 Jahre nach den Ereignissen des letzten Teils, die Reaper sind also besiegt, leider erfahren wir aber im Spielverlauf nicht, wie es eigentlich um die Milchstraße bestellt ist. Sehr schade. Eine Expedition von Menschen, Turianern, Salarianer und Asari bricht zum Zeitpunkt des zweiten Teils im Rahmen der Andromeda-Initiative mit vier Archen in die Andromeda Galaxie auf, um diese zu besiedeln. Es läuft aber so einiges schief, von den Schiffen kommt nur jenes der Menschen am Nexus, einer vorgeschobenen Basis im Stil der Citadel, an. Die restlichen Archen suchen wir im Verlauf der Handlung. Zusätzlich haben sich die damals ausgewählten neuen Heimatwelten massiv verändert und sind unbewohnbar geworden, was im Zusammenhang mit der uralten Rasse der Remnant stehen dürfte, deren Technologie wir im Laufe der Handlung erforschen. Ähnlich wie es damals mit den Proteanern in der alten Trilogie war. Wären die verschwundenen Archen, die extrem knappe Versorgung mit Lebensmitteln und die Gewissheit, keinen Weg zurück zu haben, nicht schon schlimm genug, lauert mit den Kett ein neuer Erzfeind auf uns, welcher uns nicht gut gesinnt ist und als ständige Bedrohung präsent ist. Das Überleben der Expedition zu sichern, diese aufzubauen und die neue Heimat zu besiedeln, ist der rote Faden, der sich durch die Handlung zieht und zumindest im Hintergrund stets präsent ist.

Nachdem auch im neuesten Teil die Geschichte eine sehr wichtige Rolle spielt, will ich nicht mehr verraten. Der obige Absatz war nur ein Bruchteil und wird dem Spieler bereits im Laufe der ersten zwei Stunden präsentiert – zum gewaltigen Umfang des Titels später. Mass Effect Andromeda zieht den Spieler bereits in den ersten Stunden hervorragend in seinen Bann, man schwankt ständig zwischen Faszination, Aufbruchstimmung, Anspannung, Freude und Angst. Immerhin hängt das Überleben von zehntausenden Seelen an Bord der Archen von uns ab. Leider scheint Bioware jedoch stellenweise die Kreativität ausgegangen sein, denn wer die vorigen Teile ausführlich gespielt hat, erkennt, dass viele Elemente unter neuem Namen wieder verwendet werden. Seien es Planeten, Raumstationen, Schiffe oder generell die Bausteine der Geschichte – sie sind recht frech aus den Vorgängern übernommen worden und wurden nur umbenannt. Weiters schade, nachdem Bioware die Geschichten strikt trennen möchte, werden trotz heftiger Fankritik keine Entscheidungen der Vorgänger eingespielt, sind also für Andromeda belanglos. Trotz dieser Kritik: Bioware schafft es wieder, eine hochgradig spannende Geschichte zu erzählen, die wiedermal zu den besten ihres Genres gehört. Wer also nach spannenden Geschichten sucht, unabhängig vom Genre, kommt um dieses Spiel nicht herum. Eines ist auch klar: die Geschichte um die Kett, die Remnant und die Andromeda Galaxie ist noch nicht fertig erzählt, hier ist genug Material vorhanden, um weitere Titel zu entwickeln. Ich tippe darauf, dass auch diese Story eine Trilogie wird.

Malerische Planeten

 

Ich brauche dringend einen 48 Stunden Tag

Mass Effect Andromeda ist gewaltig und das größte Bioware-Spiel bisher, was vor allem am generellen Spielaufbau liegt. Die mehr oder weniger engen Schläuche aus den Vorgängern und die geschlossenen Instanzen wurden gegen riesige offene und frei begehbare Welten ausgetauscht. Mit dem Nomad, ähnlich jenem aus der alten Trilogie, lassen sich die Planeten frei befahren und an jeder Ecke warten Nebenquests oder Gebäude, die untersucht werden wollen. Nur ein striktes und direktes Verfolgen des verschachtelten und langwierigen zentralen Storyfaden dauert schon ca. 30 Stunden, wer noch die Aufgaben der Crew und alle Nebenquests machen möchte, kann gerne 100 Stunden aufwärts einrechnen. Was für ein Preis/Leistungsverhältnis!

Die Quests an sich sind wieder mal zum überwiegenden Teil großartig. Selbst Aufgaben, die zu Beginn winzig erscheinen, entwickeln sich weiter und entfalten wahre Größe und sind dann oftmals verschlungen mit anderen größeren Aufgaben – um nichts zu spoilern nenne ich keine Details. Auch kleine Detektivaufgaben, in denen man die moralische Entscheidung selbst treffen muss, sind wieder mit von der Partie. Generell kann man aber feststellen: im Vergleich zu der vorigen Trilogie wurden vor allem die Hauptmissionen entschleunigt. Sie sind dadurch oftmals ein bisschen weniger spannend, episch und eindrucksvoll als jene der Vorgänger, sie bleiben einem weniger stark im Gedächtnis. Bioware packte auch genug Aufgaben der Marke „töte X Gegner, untersuche Y Basen und bringe mir Z Gegenstände“ in das Spiel, um die Länge zu strecken. Hätte man sich sparen können.

Die Galaxiekarte verrät bereits wie riesig dieses Spiel ist

 

Kämpfe und Rollenspielanteile, alles beim Alten

Mass Effect Andromeda bleibt seinen Wurzeln treu und bietet wiedermal ein actionreiches Kampfsystem, es ist wiedermal ein Rollenspiel-Shooter. Diese fühlen sich wiedermal sehr flüssig an und sind durch das neue Jetpack noch ein Stück schneller und variantenreicher geworden. Die Spezialisierung als Nahkämpfer macht dank der neuen Nahkampfwaffen zum ersten Mal in der Reihe wirklich Sinn. Bei der Charakterentwicklung bleibt weitestgehend alles beim Alten. Innerhalb der Skilltrees Kampf, Biotik und Technologie stehen über ein dutzend Fähigkeiten zur Verfügung, manche davon sind erst nach Abschluss der Loyalitätsmissionen möglich. Also alles gut wie immer.

 

Wiedermal umfangreich: Die Charakterentwicklung

 

Hassen und Lieben

Es sind wiedermal die Charaktere, die wirklich genau das haben: Charakter, die hervorstechen. Wie im Vorgänger reisen wir mit der Tempest, der neuen Normady, und unserer eigenen Crew durch die Galaxis. Die Teamgröße ist deutlich geschrumpft, bietet aber genug komplett verschiedene Persönlichkeiten für jeden Geschmack. Vom temperamentvollen und absolut großartigen Kroganer Drack bis hin zum Sunnyboy Liam, der schüchternen und unsicheren Peepee bis hin zum ersten weiblichen Kroganer Vetra. Könnte mich zumindest nicht erinnern, dass eine Frau in dieser Rasse jemals eine tragende Rolle gespielt hat. Diese Figuren wachsen einem ans Herz, manche von ihnen hasst man wie die Pest und in seltenen Fällen dreht sich durch Gespräche das Bild, welches man von einigen hat, um 180 Grad. Beweggründe sind glaubhaft, Überzeugungen und Entscheidungen nachvollziehbar, man leidet mit ihnen und muss manchmal harte Entscheidungen treffen. Großartig, Bioware, hier wurde wieder ausgezeichnete Arbeit geleistet. Wie immer liegt es in der Entscheidung des Spielers, wie viel er über seine Crew in Erfahrung bringt, sämtliche Dialoge und E-Mails die einen diese wunderbaren Charaktere näher bringen sind optional, aber schwer zu empfehlen. Ebenfalls wiedermal danke an Bioware, dass man bis auf ein ein bis zwei Ausnahmen auf Klischees verzichtet hat, bis auf Liam lässt sich keiner der wichtigen Persönlichkeiten in eine Schublade stecken und ist kein Abziehbild, sondern ein vielschichtiger Charakter.

Wie stark die neuen Figuren mit jenen der alten Trilogie mithalten können, ist aktuell noch schwer zu beurteilen, dafür braucht es wohl einen zweiten Teil. Bisher können sie meiner Meinung nach nicht mit jenen der alten Teile mithalten, ein Unikat wie Garrus, Wrex oder Tali fehlt mir, könnte sich aber noch ändern. Gut Ding braucht eben Weile.

Frauenpower bei den Turianern: Teammitglied Vetra

 

Flirten bis zum geht nicht mehr

Was wäre Mass Effect ohne Beziehungen, ohne die Prise Salz, die vor allem viele konservativ eingestellte Menschen immer wieder in Panik versetzt. Ja, auch in der Andromeda-Galaxie ist es möglich, sowohl homo- als auch heterosexuelle Beziehungen mit den meisten Crewmitgliedern zu beginnen, wobei manche homosexuelle Konstellationen nicht möglich sind. Diese entwickeln sich wieder in Etappen, sie sind wieder mit Zwischensequenzen ausgestattet und erschließen sich dem Spieler nur, wenn man auf der Tempest unzählige Gespräche mit den Charakteren führt, sich also Zeit nimmt. Leider ist genau das aber plump und etwas unglaubwürdig geworden. In den Vorgängern entwickelten sich diese langsamer, es war nicht klar, welche Antwortmöglichkeit zu einer gemeinsamen Zukunft führt, ob überhaupt eine Romanze möglich war. Mass Effect Andromeda dagegen macht das ganze viel einfacher, prinzipiell lässt sich alles und jeder gleich im ersten Satz, den man in seinem Leben mit diesem Charakter führt, anbaggern.

Das liegt vor allem am neuen Gesprächssystem. Die Vorgänger hatten als einzige Unterscheidungen zwischen vielen Antworten die Wahl zwischen „Gut“ und „Böse“, renegade und paragon. Im neuen Teil wurde das gestrichen und durch vier Gefühle ausgetauscht, deren Antworten eben diese Einstellung wiederspiegeln sollen. Dadurch zeigt einem bereits das Auswahlrad mit einem unübersehbaren großem Herzen, dass eben diese Antwort passt, um die Beziehung zu starten und weiterzutreiben. Das ganze System wurde also etwas idiotensicher gemacht, was ich sehr schade finde. Es wirkt einfach unnatürlich und billig, weniger emotional und glaubhaft wie in den Vorgängern.

 

Technische Katastrophe Deluxe

Mass Effect Andromeda ist traumhaft schön, was vor allem daran liegt, dass Bioware auf die Frostbite Engine in ihrer neuesten Version zurückgreift. Electronic Arts Engine-Milchkuh zeigte zuletzt in Battlefield 1 ihre Stärken. Vor allem bei den Lichteffekten wird auch in der Andromeda-Galaxis sehr viel herausgeholt. Die Partikeleffekte, sei es bei Funkenflug oder dichtem Schneefall, wirken sehr realistisch und erzeugen in Kombination mit den eindrucksvollen Landschaften und Lichteffekten eine eindrucksvolle Stimmung und lassen einen in die Welt eintauchen. Also alles eitel Wonne?

Mitnichten, denn wo Bioware grafisch großartige Arbeit leistet, patzt man bei den Animationen. In unserer Testversion bestätigen sich leider die im Vorfeld vorhandenen Sorgen, dass hier eine Bruchlandung hingelegt wurde. Die Mimik passt oftmals nicht mal ansatzweise zu dem Gesagten. Viele Gespräche werden durch archaische, unnatürliche und seltsame Gesichtszüge, beispielsweise Dauergrinser, zerstört. Auch die Bewegung der Charaktere, speziell beim Rennen, wirkt wenig realistisch und ungewollt lustig. Perfekt, um sie mit Hillbilly Musik zu unterlegen. Wie es möglich ist, dass Bioware hier eine dermaßen miserable Arbeit hinlegt, nachdem man aus vorherigen Titeln eigentlich weiß, wie es richtig geht, ist mir ein Rätsel. Ebenso kommt es immer wieder zu Clippingfehlern oder anderen technischen Unzulänglichkeiten. Charaktere erscheinen doppelt oder versinken im Boden, Türen lassen sich erst nach einem neuerlichen Laden des Spielstandes öffnen oder Figuren teleportieren sich durch den Raum.

Ansonsten läuft das Spiel weitestgehend technisch stabil, wir konnten nur seltene und nicht reproduzierbare Frame-Drops feststellen. Ein Mittelklasserechner reicht, um in maximalen Details flüssig zu spielen. Wichtig ist es jedoch, die jeweils neuesten Treiber von Nvidia und AMD installieren, mit älteren Treibern stürzte das Spiel auf unserem Testsystem regelmäßig ab. Dies gilt nur für die PC-Version, auf den Konsolen sind uns keine derartigen Probleme bekannt.

Unser neues Schiff: Die Tempest

 

Überflüssiger Multiplayer

In aller Kürze ein Wort zum Mehrspielermodus: den braucht kein Mensch. Ein Team aus vier Spielern verteidigt wiedermal in typischer Horde-Manier gewisse Punkte gegen Massen von computergesteuerten Widersachern. Erfolgreich abgeschlossene Missionen bringen Erfahrungspunkte und Ressourcen, die wiederum im Singleplayer eine Hilfe darstellen. Alles schön und gut, aber das macht für maximal ein bis zwei Stunden Spaß und ist einfach überflüssig, diesen Multiplayer-Modus kann man getrost ignorieren.

 

Gelungen oder nicht ? – Fazit

Pro:

  • Spannende und umfangreiche Story
  • Interessantes Universum
  • Spielerische Freiheit
  • Großartige Charaktere mit Persönlichkeit
  • Sehr gute, englische Vertonung
  • Wunderschöne Welten dank Frostbite Engine
  • Entscheidungen mit Auswirkungen
  • Sehr lange Spielzeit

Contra:

  • Überflüssiger Multiplayer
  • Viele langweilige Füllquests
  • Recycling von Elementen aus den Vorgängern
  • Technisch fragwürdiger Zustand
  • Miserable Animationen

Mass Effect Andromeda ist ein schwieriger Fall. Die internationalen Kritiken reichen von katastrophal bis sehr gut und ich kann sowohl eine 60er als auch eine 90er Wertung nachvollziehen. Bioware ist der Neustart gelungen, die Charaktere sind wiedermal großartig, die Welt atemberaubend und die Story packend. Trotzdem bleiben alle einzelnen Elemente qualitativ stets hinter der alten Trilogie zurück. Es ist am Ende eine sehr subjektive Wertung, denn so stark wie lange nicht mehr entscheidet der ganz persönliche Spielstil über top oder flop. Wer wie ich eher die instanzierten Schlauchlevel der Vorgänger bevorzugt hat, der wird Andromeda für ein gutes, aber nicht überragendes Spiel halten, das doch sehr stark hinter den vorigen Teilen zurückbleibt. Wer dagegen ein Fan dieser neuen, offenen Spielstruktur ist, wem das liegt, der wird sehr glücklich mit dem Titel werden und eher eine hohe 80er Wertung vergeben. Mass Effect-Veteranen und generell Freunden von storylastigen Rollenspielen kann ich das Spiel aber dennoch uneingeschränkt empfehlen. Persönlicher Rat aber am Ende: spielt es auf Englisch und nicht auf Deutsch.

Wertung der Redaktion: 80 %

Update: Trotz kleinerer Nachkorrekturen mittels Patches hat Bioware entschieden die Serie auf Eis zu legen. Ob es also jemals eine Fortsetzung geben wird darf stark bezweifelt werden.

Musikliebhaber, Festivalreisender, Konzertsüchtig, Vinylnerd, Photograph, Konzertveranstalter, Linz-Liebhaber