Slaves to the truth: 25 Jahre Mother Tongue

Wir sind ständig auf der Suche nach Neuem. Dabei darf man nicht vergessen, welche Wohltat, ganz besonders in Zeiten wie diesen, Vertrautes erzeugt. Die wichtigen Begegnungen sind schließlich jene, die am längsten überdauern. 1994 erscheint ins Los Angeles eine Band auf der Bildfläche, die ihrem Unmut leidenschaftlich Luft macht und eimerweise Herzblut ausschüttet. Knapp zehn Jahre später hat der Verfasser dieser Zeilen endlich die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild davon zu machen und ist hin und weg. Eine Liebeserklärung.

Mother Tongue sind eine Band für Kenner, Kritiker und Sammler. Das muss man heute einfach unentwegt feststellen. In Fachkreisen vorzeitig in Richtung Ruhmeshalle einsortiert, von der breiten Masse mit Desinteresse bestraft. 1994 blicken David „Davo“ Gould, Bryan Tulao, Christian Leibfried und Geoff Haba hoffnungsvoll in den Spiegel und wissen: So sehen Verlierer aus. Weil sich die Gruppe dessen bewusst ist, wird sie dennoch zu welchen, die nur gewinnen können. Das selbstbetitelte Debüt (mit dem weinenden Jesus auf dem Cover) ist eine Platte, die Gebrochenheit andeutet, aber Stärke demonstriert. Das Album ist eine Einheit, obwohl die Band zum damaligen Zeitpunkt keine ist. Den Untergrund können Mother Tongue nie wirklich hinter sich lassen. Im Namen für all die Gebrochenen und Missverstandenen, beackert das Quartett seither ihr kleines Eckchen im Archiv der Rockgeschichte – mit zahlreichen Unterbrechungen.

Die Anklagen, die Fragen und die Momente, die alles einrennen. Die Augenblicke, in denen man sich aus der Lethargie wühlt. Mother Tongue lassen ihre Songs charismatisch wüten und verblüffen damit alle, die Zeuge davon werden. Dave Grohl. Die Red Hot Chili Peppers. MTV. Dynamisch umkreisen sich die Bandmitglieder, vermählen dabei Stilelemente unterschiedlicher Ausprägung wie Blues und Funk auf besondere Art und Weise und erzählen somit auch etwas, was über die Genre-Grenzen Jahre später noch Bestand hat.

© Travis Shinn

Es ist ihnen ein Album gelungen, welches dich in Geiselhaft nimmt und in eine „Mad World“ hineinzieht. Melodien, Brüche, Dissonanzen, die in aller Eingängigkeit gegen und zueinander laufen und in waghalsiger Ausprägung miteinander kollidieren wie in „Burn Baby“. Und dann dieser Groove. Mother Tongue spazieren mit Songs wie „Broken“ oder „Damage“ wissentlich am Abgrund entlang. Die Sicht der Straßenköter auf das schöne Leben könnte man scharf formulieren. So sind sie nun mal. Die Sound klingt nach dunklen, verrauchten Bars, nach Großstadt, nach Leuten, die ihr Leid in Bourbon ertränken. Die Musik als letzter Halt, um sich vom Schmutz des Lebens reinzuwaschen.

Ihre Songs tragen Namen wie „Fear Of Night“ und „Using Your Guns“, erzählen von Krawallen und Machtkämpfen, psychischen wie physischen, bleiben dennoch vage genug, um das mitzunehmen, was man selbst benötigt. Das ist Rock, der alle Eigenschaften vereint, den er haben sollte. Er klingt dreckig, düster und gefährlich, laut, melodiös, zuweilen episch, manchmal rasend und öfters wild, aber immer mit Atmosphäre geladen und wahrhaftig. Nacheinander und gleichzeitig. Sie haben zudem sage und schreibe drei fähige Sänger in ihren Reihen. Davo Gould ist der Storyteller, dem jeden Moment die Halsschlagader platzen könnte, Christian Leibfried ist derjenige, mit dem die Pferde durchgehen und Bryan Tulao ist mit einem warmen Schmelz von Gesang ausgestattet. Eine Rarität.

© Mother Tongue

Diese Band hat mächtig Dreck unter den Fingernägeln, brennt, ist hungrig, leidenschaftlich und wird damals als der nächste heiße Scheiß gehandelt. Bevor es mit Mother Tongue richtig losgehen kann, fährt das Quartett die Karriere buchstäblich und überspitzt formuliert an die Wand. Krach mit dem Label, der Jahre später noch andauern sollte, interne Uneinigkeit, personelle Besetzungswechsel an den Drums und private Verwirklichungen (Babies!) führen dazu, dass sich die Formation trennt und erst Jahre später, Dank einer innigen Fanbase aus Deutschland, erneut zusammenfindet.

2003 begegne ich schließlich der Band live wie privat und es ist, Klischee hin oder her, Liebe auf den ersten Blick. Nach zwei hervorragenden Comeback-Alben „Streetlight“ (2002) und „Ghost Note“ (2003) ist dann erneut Schluss. Nach langem Hiatus erscheint noch eine EP und das letzte Studiowerk „Follow The Trail“ (2008) in Eigenregie, bevor es zum wiederholten Male still um Mother Tongue wird. Neue Musik gibt es nach wie vor nicht, aber das deutsche Label Noisolution spendiert dem Debüt, welches bereits 2019 seit 25 Jahren auf dem Markt ist, eine wohlverdiente Vinyl-Neuauflage. Eine Tour sollte sie nach Deutschland führen, Corona sei Dank ist diese derzeit verschoben worden. Ein Österreich-Termin war bislang nicht angedacht, wird aber hoffentlich folgen.

Wie bereits im subtext-Interview mit Bryan Tulao vor vier Jahren festgehalten, ist es ein enormer organisatorischer Aufwand, die Band zusammenzutrommeln. Jeder der vier Musiker ist mittlerweile mit anderen Dingen beschäftigt und hat andere Standbeine. Heißt, wenn es die Möglichkeit gibt, diese Band live zu erleben, nehmt sie wahr. Bis dahin: „Burn baby, burn!“

Tracklist:
01. Broken
02. Mad World
03. Burn Baby
04. Vesper
05. Sheila’s Song
06. The Seed
07. Damage
08. Fear Of Night
09. So Afraid
10. Venus Beach
11. Entity
12. Using Your Guns

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Fotos: Travis Shinn, Mother Tongue

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