NICO TAVERNISE/NETFLIX © 2020.

The whole world is watching

2020 war leider ein schlechtes Jahr für das Kino, das gilt aber nicht unbedingt für den Film. Vor allem die Streamingdienste Netflix, Amazon Prime und Co. nutzten die (Un-)Gunst der Stunde und haben mit ihren Eigenproduktionen nun gute Startplätze für das Rennen um die Academy Awards. Besonders heiß gehandelt: The Trial of the Chicago 7 – zu Recht.

Das starbesetze Netflix-Drama handelt von einem der berüchtigtsten Prozesse der US-Geschichte, dem die gewaltsame Eskalation einer Großdemonstration gegen den Vietnamkrieg vorausgegangen war. Sascha Baron Cohen (Borat, Der Diktator) und Eddie Redmayne (Die Entdeckung der Unendlichkeit, The Danish Girl) brillieren darin als zwei der „Chicago Seven“ – jenen politischen Aktivisten, die aus unterschiedlichen Beweggründen, aber mit dem selben Ziel 1968 die Antivietnam-Demo in Chicago initiierten. Anlässlich des Parteitages der Demokraten versammelten sich im August 1968 tausende Menschen in der größten Stadt Illinois‘ und protestierten gegen den Stellvertreterkrieg in Südostasien. Die Demo endet in einer gewaltsamen Konfrontation mit der Polizei und sieben, ursprünglich acht, Personen wird daraufhin der Prozess wegen Aufhetzung und Verschwörung gemacht.

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The Trial of the Chicago 7 ist mehr als ein klassisches Gerichtssaalsdrama. Nicht nur wegen der herausragenden schauspielerischen Leistung, sondern auch wegen der politischen Brisanz, die bewusst mit den Parallelen zur heutigen Zeit zu spielen scheint. Die Demütigung der ursprünglich achten Person, dem Black Panther-Mitbegründer Bobby Seale, lässt beispielsweise Erinnerungen an die Black Lives Matter-Proteste aufkommen, als ihm der Rechtsbeistand verwehrt bleibt und er im Gerichtssaal auch körperlich erniedrigt wird. Der Prozess zog sich monatelang hin und erregte massives öffentliches Interesse, nicht zuletzt wegen des umstrittenen vorsitzenden Richters Julius Hoffmann.

1968 oder 2020?

Regisseur Aaron Sorkin erzählt die Geschichte facetten- und nuancenreich. Nach 2:10 Stunden lässt er einen mit der Frage zurück, ob der Film in den USA der 1960er oder 2020er spielt – eskalierende Proteste und Konfrontation gibt es nach wie vor, die Frage ist nur, ob sich der Rechtsstaat weiterentwickelt hat. Die Phrase „The whole world is watching“, die die Demonstranten 1968 während der Auseinandersetzung mit der Polizei skandierten, ist heute durch das World Wide Web vielleicht sogar noch treffender als damals.

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Und zur Oscar-Frage – die beantwortet der Angeklagte Lee Weiner. Verwundert, warum neben den Leuchtfiguren der Protestbewegung auch er angeklagt ist, meint er:  „This is the Academy Awards of protests and as far as I’m concerned, it’s an honor just to be nominated.“

The Trial of the Chicago 7
Regie: Aaron Sorkin
Kamera: Phedon Papamichael
USA 2020 | 129 min

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