Die Anomalie

Am 10. März landet die Boeing 787 des Air-France-Fluges 006 am JFK Airport in New York. 110 Tage später, am 24. Juni, landet die gleiche Maschine mit den gleichen 243 Passagieren ein zweites Mal. Allerdings sind es nicht dieselben Menschen, die zufällig nochmal dieselbe Strecke fliegen. Es sind exakte Kopien, mit gleicher DNS, Erinnerungen und sexuellen Präferenzen.

In „Die Anomalie“ erschafft Hervé le Tellier eine Welt, in der, aus dem Nichts heraus, Menschen zweimal existieren. Das plötzliche Auftauchen dieser Duplikate bringt nicht nur bürokratische und juristische Abläufe durcheinander. Diskussionen über die Beschaffenheit der Realität und die Existenz selbst rücken zunehmend in den Mittelpunkt. So seltsam es auch klingen mag, erscheint die Simulationstheorie zunehmend als beste Antwort auf viele Fragen. Glaubensvertreter der größten Religionen werden eingeladen, um zusammen mit den Geheimdiensten zu erörtern, ob es sich bei den Neuankömmlingen überhaupt um Geschöpfe Gottes oder vielleicht sogar des Teufels handelt. Zeitgleich arbeiten auf der ganzen Welt Wissenschaftler weiter an Erklärungsversuchen, während die Passagiere in Begleitung von Psychologen mit sich selbst konfrontiert werden.

Le Tellier lässt uns über Umwege in das Leben der Passagiere eintauchen. Anhand der kleinen Erlebnisse eines jeden erwachen die Personen zum Leben und erzählen von Träumen, Ängsten und ihren dunkelsten Geheimnissen. Darüber hinaus greift Le Tellier grundlegende Fragen nach der Identität auf und versucht zu zeigen, was geschieht, wenn keine Abgrenzung mehr möglich ist. Wessen Kind ist es, wenn es die Mutter doppelt gibt? Wer ist das Original und wer die Kopie, wer hat ein Recht auf Leben? In diesem Rahmen entstehen skurrile Situationen, deren Bewältigung sowohl für die Passagiere als auch den Leser eine Herausforderung darstellen.

FAZIT

Mit besonderem Feingefühl beschreibt Le Tellier, wie die Jüngsten teils komplett unbedarft mit der Situation umgehen und einen kreativen Ausweg aus dem Familiendilemma finden. Ein gelungener Roman mit einem außergewöhnlichen Gedankenexperiment, bei dem das Buch selbst Teil der Geschichte ist.