Pandemia - Rudi Anschober
Foto: Ulrik Hölzel

Pandemia: Im Maschinenraum der Macht


Gesundheitsminister a.D. Rudi Anschober hat mit „Pandemia“ ein Buch veröffentlicht, wo er „Einblicke und Aussichten“ in einer pandemiegeplagten Gesellschaft darlegt. Einblicke, Aussichten – und ein wenig Abrechnung mit politischen Gegebenheiten.

„Pandemia“ ist keine Abrechnung, sondern Beginn einer Aufarbeitung, die mir selbst gutgetan hat, die wir aber auch als Gesellschaft benötigen – so der ehemalige Grünen-Politiker und Gesundheitsminister Rudi Anschober im Vorwort zu seinem Werk. „Pandemia“ – hier erzählt der aus der Politik ausgeschiedene ehemalige Minister seine Einblicke in eine Welt, die sich im März 2020 schlagartig geändert hat. Anhand echter ProtagonistInnen wie Long-Covid-Betroffenen, Pflegern auf Intensivstationen, aber auch „einfachen Menschen vom Dorf“ auf der einen, und fiktiver Personen wie der Wissenschaftlerin „Astrid Norton“ oder der Oberärztin „Kathrin Hinz“ auf der anderen Seite legt Anschober dar, wie die Pandemie nicht nur unsere gewohnte Gesellschaft nachhaltig gewandelt hat.

Von ersten Erkrankten hin zu einem hastig beschlossenen Lockdown im März 2020, wo in politischer Einigkeit der komplette Staat über Nacht zugesperrt wurde, bis hin zur aktuellen Omikron-Welle, spannt das Buch die Geschichte über zweieinhalb Jahre Pandemie. Diese Zeit hat nicht nur bei Rudi Anschober als Minister Spuren hinterlassen. Was hält Demokratie aus? Wie weit kann man aus Gründen des Gesundheitsschutzes gehen? Sind Ausgangsbeschränkungen zulässig? Und was machen diese mit einer westlichen Gesellschaft? Fragen wie diesen widmet sich der ehemalige Minister. „Bericht aus dem Maschinenraum“ nennt Anschober seine Erlebnisse während seiner Funktion als Gesundheitsminister, die er während der Pandemie erfahren und, ja, ertragen musste. Von nicht vorhandener Schutzkleidung im Frühjahr 2020, begrenzten Ressourcen in seinem Ministerium, anfänglichem gesellschaftlichem und politischem Zusammenhalt bis hin zu Impfdemos, Tourismus-Besprechungen und vorschnellen Lockerungen werden die letzten zweieinhalb Jahre abgedeckt.

Zusammenhalt, Umfragen und leise Kritik

Anschober selbst spart hier nicht mit Kritik zwischen den Zeilen. War es anfangs politische Einigkeit, vor allem mit dem damaligen Kanzler Kurz, so hat sich das Verhältnis zwischen Kanzler und Gesundheitsminister nicht immer friktionsfrei entwickelt. Auch mit Vertretern des Wintertourismus, Landeshauptleuten und Gesundheitsreferenten dürfte es laut Anschober nicht immer einfach gewesen sein. Vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel der Gesellschaft mal abgesehen. Der zuerst spärlich vorhandene europäische Response auf die Pandemie wird hier kritisiert. Genauso wie die Corona-Ampel, wo verpflichtende Maßnahmen durch politisches Kleingeld torpediert und damit das System ad absurdum geführt wurde.

Dennoch sind es vor allem die „realen“ Geschichten, die das Buch lesenswert machen. Von der überforderten Intensivkrankenschwester bis hin zur Dorfbewohnerin, die ihren Gatten an Covid-19 verloren hat. Oder von der kleinen Buchhändlerin, die über Nacht ihr wirtschaftliches Dasein verliert, bis hin zu Long-Covid-Betroffenen, die keine Treppe in den ersten Stock mehr schaffen. Es sind diese realen Einblicke, die das Buch gekonnt dem politischen Handeln gegenüberstellt. Nicht nur einmal dürfte Anschober mit sich selbst, aber viel mehr mit dem Koalitionspartner und anderen Stakeholdern gehadert haben. Nicht nur einmal dürfte er nicht aus dem Kopfschütteln herausgekommen sein, als die Pandemie per Plakatkampagne im Sommer für „beendet“ erklärt wurde. Und nicht nur einmal klingt durch, dass die Antwort auf die Pandemie eine europäische sein hätte sollen, und dass man so unvorbereitet wie nur möglich „erwischt“ wurde.

Fiktive Expertinnen

Vor allem die Figuren der Oberärztin „Kathrin Hinz“ und der Wissenschaftlerin „Astrid Norton“ sind spannend. Sie dürften die Meinungen vieler aus dem medizinischen Betrieb auf Intensiv- und Normalstationen oder aus der Sicht der WissenschaftlerInnen für sich vereinnahmen. Eine Mischung aus Überforderung, Notfallbetrieb auf der medizinischen und ein Nicht-Gehört-Werden auf der wissenschaftlichen Seite. Auch hier kommt zwischen den Zeilen hervor, dass Anschober als Minister nicht immer das durchbrachte, was er seiner Meinung nach sollte.

Ebenso wird der gesellschaftliche Wandel durch die Pandemie beleuchtet. Waren es anfangs noch solidarische Akte während Lockdown #1, wurde letzten Winter zigtausendfach gegen Impfung und vor Krankenhäusern demonstriert. Was macht eine Pandemie aus einer Gesellschaft? Wie kann sie sich verändern, und wie können bedenkliche Entwicklungen rückgängig gemacht werden? Anschober vertritt hier die Linie: solidarisch auf der einen, europäisch koordiniert auf der anderen Seite. Wissenschaftsskepsis bekämpfen und Verantwortung einfordern sollte laut Anschober ebenfalls ein zentraler Punkt sein. Auch im Hinblick auf kommende Herausforderungen wie Pandemien und Klimawandel.

Fazit

„Pandemia“ ist ein Buch, das die letzten zweieinhalb Jahre nachvollziehbar aus der Sicht eines Hauptakteurs abbildet. Neben den realpolitischen „Berichten aus dem Maschinenraum“ und den Differenzen zum damaligen Kapitän auf der Regierungsbrücke liefert das Buch einen Einblick in eine Welt, die sich nachhaltig verändert hat. Eine Welt, wo das Auftreten der nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist. Und eine Welt, wo die Menschheit auch nach und während Covid-19 nicht auf große Krisen vorbereitet zu sein scheint. Ein Eintauchen in die Welt eines ehemaligen Ministers, der körperlich selbst daran gescheitert ist. Eine Welt, die Politik und Pandemiebekämpfung gegenüberstellt – ein Schlachtfeld, wo nicht nur einmal die Politik über die Pandemie gesiegt zu haben scheint.


Pandemia

von Rudi Anschober

Paul Zsolnay Verlag
Gebunden, 272 Seiten

24,70 €

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