© Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon

Cherry Lips: LA CERISAIE / DER KIRSCHGARTEN bei den Wiener Festwochen

Tiago Rodrigues lässt Isabelle Huppert bei den Wiener Festwochen brillieren. Der portugiesische Regisseur nimmt sich dem Werk „Der Kirschgarten“ des russischen Schriftstellers Anton Tchechow an. In der Halle E im Museumsquartier darf die französische Schauspiel-Ikone Ende Mai mit ihrem Ensemble den Verlust ihres Landguts betrauern.

Es darf auf Französisch mit deutschen und englischen Übersetzungen zwischen den übergroßen Art déco-Leuchten auf der Bühne kokettiert, gelitten und gestritten werden. Die heimkehrende Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, verkörpert von Huppert, droht an ihren Schuldenberg zu zerbrechen. Die beliebte Matriarchin sieht sich gezwungen, ihr gesamtes Hab und Gut mitsamt unrentabel gewordenen Kirschgarten loszuwerden. Der Unternehmer Jermolaj Alexejewitsch Lopachin, energisch dargestellt von Adama Diop, steht schon in den Startlöchern und wartet nur darauf, ihr bei einer Zwangsversteigerung ihr Anwesen und ihr Land abzuluchsen. Huppert wechselt dabei gekonnt mühelos und wirklich glaubhaft ihr Spiel. Zwischen Lethargie, Trauer und Euphorie changiert die Darstellerin. Von ihrer Familie und ihren Bediensteten wird sie unterdessen aufgemuntert. Definiert uns unser Eigentum oder liegt es an uns, welchen Stellenwert wir ihm beimessen? Ist es im Falle von Ranjewskaja vielleicht doch eine Möglichkeit, noch einmal neu und ohne Ballast der Vergangenheit anzufangen?

© Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon

Die Inszenierung von Tiago Rodruiges fokussiert sich leichtfüßig und mit einigen Aha-Momenten auf den psychischen Ausnahmezustand, dem die Figuren hier ausgesetzt sind. Es geht um Machtverhältnisse, die beanstandet werden. Um Besitztümer, die außerdem unwiderruflich wechseln werden. „La Cerisaie/Der Kirschgarten“ lässt eine existenzielle Bedrohung über den Alltag der Charaktere in unterschiedlicher Härte hereinbrechen und konfrontiert die Betroffenen mit ihren Verlustängsten.

Während also die zurückgekehrte Gutsherrin mit der Aussichtslosigkeit des Neuen zurechtkommen muss, entwickelt sich das Stück des russischen Dichters zum aktuellen Topos. Das Neue und das Unbekannte auch als Chance zu begreifen, ist garantiert kein leichtes Unterfangen. Diese Inszenierung am Schluss zeigt jedoch, was es gelegentlich ist: Unausweichlich.

© Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon

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