Diagonale Fahnen über Graz
Foto: Diagonale/Paul Pibernig

Diagonale 23: Sehnsucht ahoi!

Es geht wieder los! In Graz eröffnet mit der Diagonale 2023 die österreichische Film-Festivalsaison. Jeder, der kann, lässt sich blicken, eine Premiere folgt auf die nächste.

„Der Abend wird noch länger, ich warne!“, so beginnt Peter Schernhuber die Eröffnungsrede, als er und Sebastian Höglinger die Bühne des temporär größten Kinos des Landes betreten. Doch der lange Applaus in der Helmut-List-Halle ist den Beiden gewiss. Das Festival des österreichischen Films findet heuer zum letzte Mal unter ihrer Leitung statt. Insgesamt werden in den nächsten Tagen in Graz 115 Filme aus den Bereichen Spiel-, Dokumentar-, Kurz-, Animations- und Experimentalfilm gezeigt.

Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger
Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger
Foto: Diagonale/Sebastian Reiser

Nach acht Jahren verabschieden sich die beiden Intendanten und werden etwas wunderlich, wie sie selbst sagen. Doch wie schon die Jahre zuvor, ist ihrer Eröffnungsrede eine pointierte und kritische Betrachtung der Lage der österreichischen (Kino-)Kulturnation.

Die rede

„Sie werden andere Filme sehen als ich, andere Musik hören und andere Bücher lesen“, sagt Sebastian Höglinger. „Schlechtere, wohlgemerkt“. Jeder sieht einen anderen Film, egal wie gut er geplant, gespielt, gedreht und geschnitten ist. Die persönliche Sicht ist eine andere. Nicht nur im Film, auch im Leben. Dass in Zeiten einer gesellschaftlichen Spaltung Kino auch verbinden kann, das sei ihnen wichtig, betonen die beiden.

Auch einen Seitenhieb auf Niederösterreich wollten sie sich sparen, ihn nur in ihrem persönlichen Liederbuch notieren. Aber falsch liegen immer nur die anderen, sonst wären sie ja nicht die anderen. Zweifel und Graustufen sind aus der Mode gekommen. Von der eigenen Meinung abzuschweifen liegt längst nicht mehr im Trend. Und so gesehen ist selbst der Lions Club nichts anderes als ein Safe Space für unreflektierte Meinungen. „Gefühlte Wahrheiten, die gehören ins Kino, nicht in die Politik“. Und so endet eine mit vielen Musikzitaten und Anspielungen von Ambros bis Attwenger gespickte Rede mit einer Liedzeile von Blumfeld. „Mach doch mal einer den kulturkack aus! Ach geht ja nicht, laß bloß an, bin ja selber drin“. Ein würdiger Abschluss, Standing Ovations.

Die ganze Rede können sie hier nachlesen.

Großer Schauspielpreis

Wie immer wird zur Beginn der Diagonale der Große Schauspielpreis für Verdienste um die österreichische Filmkultur vergeben. Dieser geht heuer an Margarethe Tiesel, die als Theater-, Film- und Fernsehdarstellerin von kleinen Nebenrollen in No-Budget-Produktionen bis zur Hauptrolle in Ulrich Seidls „Paradies: Liebe“ alles schon gespielt hat. Sie habe sich von der Kellnerin zur Wirtin, dann zur Mörderin und zur Sextouristin hochgearbeitet. „Das war ein Aufstieg“, sagt sie, und seither kommen viele Angebote, auch zum Heiraten.

MAN KANN ALLES SPIELEN, AUCH DIE ELENDEN,
MAN MUSS IHNEN NUR DIE WÜRDE LASSEN 

Margarethe Tiesel

Die Jury, bestehend aus Ute Baumhackl, Michou Friesz, Christian Konrad, Marvin Kren und Valerie Pachner, hebt in ihrem Statement besonders Tiesels Qualität hervor, im Rampenlicht des Abseits zu glänzen: „Oft und immer wieder neu gibt sie den an den Rand Gestellten, den zu kurz Gekommenen, den Traurigen und Verletzten Präsenz und Würde, Komplexität, Emotionalität und Humor. So sorgt Margarethe Tiesel, nicht selten als One-Woman-Show, für weibliche Vielfalt im deutschsprachigen Kino – vom Nordrand bis ins Hinterland, von Harald Sicheritz bis Fatih Akin.“ Der Preis, ein persönlich gestaltetes Kunstwerk, wird von der Künstlerin Xenia Hausner selbst übergeben. Die sichtlich gerührte Tiesel äußert auf der Bühne nur einen Wunsch: „Dass man Frauen ihrer Generation nicht vergisst, beim Drehbuchschreiben.“

Als Eröffnungsfilme waren NYC RGB, eine experimentelle Miniatur von Viktoria Schmid und Das Tier im Dschungel von Patric Chiha zu sehen.

Tag 1 – ruhiger start

Verschneite Hänge, ein langes Tal, unberührte Natur, ein dunkler See. Und am Ufer meterweise Plastikmüll. Ein Kühlschrank schwimmt durchs Bild. So beginnt MATTER OUT OF PLACE, der neue Dokumentarfilm von Nikolaus Geyrhalter.

In langen, unkommentierten Einstellungen zeigt er, wo sich der Müll unserer Konsumgesellschaft ansammelt, und wie unterschiedlich damit umgegangen wird. Die Reise nimmt uns mit von der Schweiz nach Albanien, von Nepal nach Griechenland und von den Malediven nach Nevada. Zerstörte Landschaften, alte und neue Deponien, sind ebenso zu sehen wie frisch geputzte Traumstrände und eine besenreine Wüste. Die Sammlung, Sortierung, Deponierung und Verbrennung von Müll werden zum visuell beeindruckenden Ballett. Eine Sisyphos-Aufgabe, denn das globale Müllproblem wirkt bedrohlich groß und unlösbar.

Eismayer, die romantische Verklärung eines sadistischen Bundesheerausbildners, muss man hingegen nicht gesehen haben. Außer man möchte unbedingt von der Leinwand angeschrien werden. Dagegen ist 27 Storeys ein Highlight. In frischem und sehr persönlichem Stil erzählt Bianca Gleissinger vom Aufwachsen in Harry Glücks Wohnpark Alterlaa. Jetzt, 20 Jahre später, spürt sie der Frage nach, was aus der Wohn-Utopie ihrer Kindheit geworden ist.

Tag 2

Stams, das Schigymasium in Tirol ist die Kaderschmiede des österreichischen Wintersports. Ski Alpin, Skisprung, Snowboard und Biathlon stehen auf dem Stundenplan, neben den üblichen Fächern. Aber das Ziel ist klar: Olympia, Weltcup, Kristallkugeln und Goldmedaillen. Bernhard Braunstein begleitet die jungen Sportler:innen durch ein Schuljahr, und fängt alles ein. Verletzungen, Selbstzweifel, Drill – die Schüler:innen wirken extrem abgeklärt, denn das Zeitfenster für ihren sportlichen Erfolg ist klein. Ein Sturz, und alles kann vorbei sein. Da bleibt wenig Raum für normale Teenagerprobleme.

Wie jedes Jahr wird wieder ein ORF Landkrimi gezeigt. Dunkle Wasser führt uns ins beschauliche Mattsee in Salzburg. Dort taucht nicht nur eine Leiche im Wasser auf, auch die Vergangenheit des Ortes und ihrer Bewohner:innen kommt immer mehr ans Licht. Dass Chefinspektor Dorner selbst mittendrin steckt und seine junge Kollegin Fink neben der Mörderjagd auch noch auf ihn aufpassen muss, sorgt für eine besondere Dynamik. Ein Fernsehfilm, der auch auf der großen Leinwand überzeugt. Kein Wunder, waren doch heuer die Riahi Brothers für den Landkrimi verantwortlich.

Was treibt ein Mann mit pädophilen Neigungen in einer alten Schule in Rumänien, umgeben von kleinen Kindern? Und muss man darüber einen Film machen, nur weil man es kann? Ulrich Seidl geht mit Sparta wieder einmal an die Grenzen. Mehr dazu hier.

Tag 3

Nach Die beste aller Welten zeigt uns Adrian Goiginger ein weiteres Stück seiner Familiengeschichte, aber dafür holt er weit aus. Denn in Der Fuchs erzählt er von seinem Urgroßvater Franz Streitberger, der auf einem einsamen Pinzgauer Bergbauernhof aufwuchs. Seine verarmte Großfamilie kämpft ums Überleben, also wird der kleine Franz an einen reichen Bauern als Arbeitskraft weggegeben. Mit diesem Vertrauensbruch kann er nur schwer umgehen. 10 Jahre später verpflichtet sich der introvertierte junge Mann als Soldat. 1937 verteidigt er noch Österreich gegen die Deutschen, eher er für Hitler erst im Osten gegen Polen und dann an der Westfront gegen Frankreich kämpfen muss. Dort begegnet ihm im Wald ein Fuchswelpe, der sein Begleiter wird. Langsam baut sich zwischen den beiden eine Beziehung auf und der Außenseiter beginnt, wieder anderen zu vertrauen. Liebevoll spielt Simon Morzé den Soldaten, dem man die Verzweiflung und Angst in jedem Moment ansieht. „Das wars jetzt mit den Familiengeschichten“, sagt Goiginger nachher im Filmgespräch. „Als nächstes kommt von mir eine Komödie“.

Ein Film mit Botschaft, das war das Ziel von Sebastian Brauneis in Die Vermieterin. Und auch mit einer guten Portion Humor. Gierige Vermieter:innen, Makler und Rechtsanwälte, sie alle kommen in der No-Budget-Produktion nicht besonders gut weg. Als Wohnungsmarkt-Krimi und Mietrecht-Musical kämpft der Film für mehr Gerechtigkeit und gegen den Willhaben-Maklerwahnsinn. Mit seinem üblichen Cast, unter anderem Margarete Tiesel, hat der Wiener Regisseur wieder einmal ohne Budget ein großes Projekt auf die Beine gestellt. Und er ist sich nicht zu schade, das Publikum im Nachhinein noch um Geld anzuschnorren. Auf seiner Webseite Brauneis.biz kann man eine Karte danach kaufen, dafür bekommt man eine Erwähnung im Abspann.

Tag 4

Am vorletzten Tag machen sich erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Eigentlich wollte ich mir am Vormittag VERA von Nizza Covi und Rainer Frimmel ansehen. Aber ich brauch mal ein bisschen Pause. Kann man ja nicht wissen, dass der Film dann den Großen Diagonale-Preis als Bester Spielfilm gewinnen wird.

Am Abend bin ich dann aber bereit. Nach „Schiele, Tod und Mädchen“ hat sich Dieter Berner ein weiteres Mal der Kunstszene der Wiener Kunstszene um 1900 gewidmet. Mit Alma & Oskar zeigt er ein intimes Portrait der Komponistin Alma Mahler und ihre Beziehung zum Maler Oskar Kokoschka. Mehr dazu hier.

In einem anderen Genre und 150 Jahre später spielt Rubikon in einer komplett anderen Welt. Der Planet ist vergiftet, Konzerne haben die Weltherrschaft übernommen und auf der letzten verbliebenen Raumstation kämpfen Idealisten darum, der Menschheit das Überleben zu ermöglichen. Das Sci-Fi-Drama von Lena Lauritsch ist eigentlich ein Kammerspiel, das großteils mit drei Figuren auf engstem Raum auskommt. Präzises Schauspiel, unglaublich gutes Szenenbild und eine perfekte Musik- und Tonkulisse erschaffen eine eigene Welt. Bemerkenswert, dass dieser Film nicht mit Hollywood-Budgets entstand, sondern mit eingeschränkten Mitteln auskommen musste und in der Wiener Panzerfabrik gedreht wurde. Ein großartiges Spielfilmdebüt der jungen Regisseurin.

Tag 5

Ein Mörderfrühstück zum Abschied. Trotz Zeitumstellung ist der Saal voll, wenn der ORF zu einer weiteren Premiere einlädt. Im zweiten Landkrimi von Mirjam Unger ermitteln wieder Patricia Aulitzky und Dominik Raneburger im zutiefst traditionellen und bäuerlichen Tirol und brechen dabei einige Rollen- und Gender-Klischees. Viele Wendungen, Mordmotive und Verdächtige zeigen ein weiteres Mal, dass dieses Fernsehformat eigentlich auf die große Leinwand gehört. Das großartige weibliche Team (Regie, Buch, Kamera, Produktion, Schnitt, Sound,.. ) setzt mit Der Tote in der Schlucht einen nötigen Kontrapunkt zu manch anderen Eigenproduktionen des ORF. 

Dazu passt perfekt im Anschluss die Dokumentation FEMINISM WTF von Katharina Mückstein, die den Publikumspreis für den beliebtesten Film der Diagonale’23 gewonnen hat. Ab 31. März im Kino.

Später am Nachmittag wurden die Preise vergeben. Mehr dazu hier: Diagonale 23 – Preise und Nüsse


Diagonale 2023

Festival des österreichischen Films
21.–26. März 2023, Graz
www.diagonale.at

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