Longyearbyen, die nördlichste Siedlung der Welt
Foto: Crossing Europe

Návštěvníci / The Visitors

Longyearbyen. Schwer auszusprechen, schwer zu erfassen. Die nördlichste Siedlung der Welt wird für Zdenka – eine Sozialanthropologin aus Mitteleuropa – der Mittelpunkt ihrer Forschungsarbeit und Familie. Damit beginnt eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Außenseiterdasein, Klimawandel und generell Veränderung.

Mit statischer Kamera blicken wir auf ein schneebedecktes Bergmassiv. Schnitt. Über Eisdünen fegt der Wind und zieht das mit, was er findet. Schnitt. Weit entfernt – klein wie eine Ameise – fährt ein Auto über eine kaum erkennbare Straße. „The man who sits by the fire all day throws the best of his life away“. Und spätestens als dieses Zitat in feinen Lettern auf der Leinwand erscheint hat einen der Sog, den der Film auf einen loslässt, völlig in den Bann gezogen.

Dumpfe Sounds, helles Leben.

Schon von Beginn an fegen einem dumpfe Sounds um die Ohren. Man möchte es schon fast Musik nennen, so wie sich die SFX ähnlich wie pfeiffender Wind in Töne umwandeln. Zdenka ist mittendrin. Sie telefoniert mit Leuten. Fragt sie, ob sie ihr ein Interview für ihre Forschungsarbeit geben möchten. Auf Englisch, wenn möglich. Denn Svalbard (so wird Spitzbergen lokal genannt) ist eine visafreie Zone. Es wird lediglich ein Beruf und eine Unterkunft gebraucht, um dort leben zu dürfen. Und so spricht sie mit den Leuten. Mit Minenarbeiter:innen, dem Bürgermeister, Pastor:innen, Physiotherapeut:innen, Biolog:innen. Ausnahmslos nimmt dabei ein jeder eine unumgängliche, allgegenwärtige Veränderung wahr.

Vom Schmelzen von Schmelztiegeln.

Von den rund 2500 Menschen, die in Longyearbyen leben, sind nur wenig einheimisch. Viele ziehen zu, die meisten, weil sie vor irgendetwas davonlaufen. Vor bröckelnder Familie, Krieg, Existenzkrisen. Alle haben sich ein stabileres Leben am Rande der Zivilisation gewünscht, um ein sicheres Zuhause zu finden. Aber die ruhigen Bilder täuschen. Nicht nur gesellschaftlich ist die Siedlung eine globale Verdichtung, auch der Klimawandel treibt sein Unwesen. Das bekommt man auch ganz subtil über die gezeigten Bilder zu verstehen. Gletscher schmelzen, Naturkatastrophen häufen sich. „Everything is moving“, wird es so schön gesagt. Aber gerade dann, als man glaubt, diese Dokumentation in die Schublade mit all den anderen klimakritischen stecken zu können, dreht sich der Wind.

Doppelmoral heißt bei kameras kontrast.

Rassismus und Ausländerhass wird zum Thema. Visafrei klingt anfangs nach Vorteil, erschwert aber vielen den Zugang zum Sozial- & Gesundheitssystem. Selbst die, die schon jahrelang auf der Inselgruppe leben, werden von Norwegen nicht als Staatsbürger anerkannt. So entsteht auch hier ein Kommen und gehen und eine systematische Diskriminierung aus der Politik heraus, wie man es für unmöglich von dem ach so fortschrittlichem Skandinavien hält.

So entsteht eine subtile Doppelmoral, die sich im gesamten Film wiederfindet. Man möchte internationale Leute dort haben – aber eigentlich nur Norweger:innen. Man möchte klimaneutral werden – ersetzt die Kohleindustrie aber durch Schiffe und Flugzeuge für Tourismus. Die Leute wollen einen Ort der Stabilität – nehmen dafür Veränderung. Die nüchterne Kamera leistet dabei grandiose Arbeit. Weitwinkel zeigen wunderschön den Kontrast, wie klein und nichtig der Mensch im Gegensatz zur Natur ist. Kalte, blaue Farben zieren das Draußen, drinnen werden die Menschen mit näheren Einstellungen und dem künstlich warmen Licht gezeichnet. Und um dann genau dazwischen zu stehen wird mal wieder durch eine Glasscheibe gefilmt, die alles dazwischen abbildet. Fast schon schizophren, so fühlt sich das an. Warm, kalt. Dunkel, hell. Groß, klein.

The man who sits by the fire all day throws the best of his life away.

Man bekommt kein Porträt eines schwer zu führenden, minimalistischen Lebens. Nein. Man bekommt eine von Kapitalismus und Globalisierung genauso betroffene Siedlung wie jede andere Gemeinschaft. Die Stabilität wird zum Trugschluss, obwohl einen der Film in eine so schön geborgen wirkende Umgebung wirft. So hinterfragt man sich am Ende selbst. Ist man der Mensch, der sein Leben wegwirft? Oder würde ich mich eigentlich auch nur selbst belügen, noch zu glauben, dass es Stabilität in dieser Welt zu finden gibt? Unbedingt anschauen. Weiteres Screening am Sonntag, 30.04.2023 um 18:45 im City Kino 2.


"The Visitors" Filmstill

Návštěvníci / The Visitors

Regie: Veronika Lišková

Tschechien / Norwegen / Slowakei 2022
color / 83 Minuten Englisch / Tschechisch / Norwegisch OmeU

taskovskifilms.com


Crossing Europe 2023

Crossing Europe Logo

filmfestival linz
26 april – 01 mai 2023
www.crossingeurope.at

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Im Zweifel vor dem großen Screen oder hinter der Kamera.