Michèl von Wussow: norddeutsche Indie-Pop-Welle
„Angst gegen Vertrauen“ heißt das erste Album des Hamburger Songwriters Michèl von Wussow. Drei Jahre später zündet die gleichnamige Headliner-Tour, was als Funke während der Corona-Pandemie zu sprühen begonnen hatte. Am 16. November bringt Michèl von Wussow seine rauen, feinfühligen Indie-Popsongs auf die Bühne des Milla Club in München.
In verschnörkelten Lettern prangert der Clubname des Milla an der Außenseite im Münchner Glockenbachviertel. Das Innere hält, was der Club verspricht: Kellerflair, Neonlicht, bespraytes Betongewölbe. Michèl von Wussow und seine Bandkollegen versprechen, der Wechselkurs für „Angst gegen Vertrauen“ steht heute Abend gut. Doch erstmal von vorne.
SEDA
Das Kellergewölbe füllt sich langsam mit Menschen allen Alters, die Bar ist gut besucht. Hanna Rautzenberg ist als eigentlicher Support Act spontan ausgefallen. Spontan springt Newcomer SEDA ein und bringt das Publikum. Deren sanfte Melodien auf Synth-Playbacks mit einer Prise sympathischer Aufregung zwischen den Tracks docken bei den Leuten an. Gegen Ende nimmt das Set an Fahrt auf, SEDA die Akustikgitarre zur Hand. Die Melodien werden eingängiger, die Klänge noch purer.
Persönliche Widmungen
Die Stimmung ist aufgewärmt für Michèl von Wussow plus Band. Der gebürtige Hamburger hat seine drei Kollegen Nicolai Ditsch, Timo Kahl und Jacob Streit in Hannover kennengelernt, im Popkurs, wo er Popgesang studiert, und als Nachbarn. Seine Songs lassen sich wie persönliche Briefe, gewidmet an Personen aus seinem Umfeld, vorlesen. Der 28-jährige verarbeitet seine Beziehung zu seinen Eltern, mit einer Ehrlichkeit, die im deutschen Popbusiness selten erscheint. Den Liebeskummer der jüngeren Schwester, die Angststörung der besten Freundin oder den Kindergartenkumpel, der seine Suchtkrankheit überwinden bis hin zur Begegnung im öffentlichen Verkehr, die er prompt auf den Namen „Mathilda“ getauft und zu seiner Debütsingle erkoren hat – alle bekommen ihren Song. Das lyrische Du macht die lebensnahen Texte noch greifbarer.
Blut, Schweiß und Tränen
Nach zwei Liedern fließt der Schweiß sturzbachartig über Gesicht und Rücken, die Perlenkette des Gitarristen fliegt hin und her. Neben dem „was“ prägt vor allem das „wie“ die Erfahrung. Die vier Jungs, allen voran Michèl, legen Herzblut in ihre Performance. Das Highlight in der Mitte des Sets: drei seiner emotionalsten Songs in der Akustikversion, die Michèl direkt im Publikum spielt, sich im Kreis drehend. Diese Nähe hinterlässt Spuren im Publikum, das nach der Akustikeinlage besonders präsent scheint. Im Anschluss gibt es für den Weltschmerz im unveröffentlichten Track „Mitte 20 im Arsch“ den längsten Szenenapplaus.
Angst oder Vertrauen?
Auf der Bühne ist von Angst nichts zu spüren. Vielleicht ist es ein norddeutsches Attribut, die Direktheit, die Simplizität: vier Instrumente, eine kräftige Stimme, authentische Texte. Trotz des brachialen Gewands verlieren die Songs live nicht an Feinfühligkeit, eher unterstreicht es die Wirkung der Inhalte. Dazu Michèls Timbre, irgendwo zwischen Vincent Waizenegger und Udo Lindenberg angesiedelt. Energielevel: 200 Prozent. Im Interview mit subtext.at erklärt Michèl von Wussow, warum das Vertrauen gerade besiegt.
Fazit
Wen sich Michèl von Wussow nach dem anderthalbstündigen Konzert noch nicht als Fan erspielt hat, überzeugt spätestens der bandeigene Filterkaffee am Merchstand. Dafür gab es retour sogar selbstgebackene Kekse von einer jungen Konzertbesucherin als Geschenk. Michèl von Wussow ist der perfekte Act für Deutschpop-Fans, die sich in Indie-Gefilde wagen wollen.
Michèl von Wussow im Interview: „Mit dem ersten Ton ist alles abgefallen“
Fotos: Kerstin Kern