Lost Country: Zwischen Politik & Familie
Stefan lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter in Serbien, welche 1996 als Pressesprecherin tätig ist. Ihrer Partei wird allerdings Wahlfälschung und Korruption vorgeworfen, wodurch sich Stefan nun zwischen Familie und dem immer größer werdenden Wunsch nach Gerechtigkeit entscheiden muss.
Stefan führt eigentlich ein völlig normales Leben als Teenager in Serbien kurz vor der Jahrtausendwende. Politisch scheint die Situation jedoch alles andere als normal. Wahlergebnisse werden von der sozialistischen Partei mutmaßlich vertuscht und Proteste der Opposition brutal niedergeschlagen. Inmitten davon die Mutter von Stefan: Marklena, die als Sprecherin ihrer sozialistischen Partei fungiert. Als sich Stefans Freunde Schülerprotesten anschließen, sieht er sich immer mehr gezwungen, für eine der beiden Seiten einzustehen, um nicht seine engsten Beziehungen aufs Spiel zu setzen.
Mein Kleines Anhängsel
Marklena, eine Wortbildung aus Marx und Lenin, ist besorgt um ihren Sohn. Schließlich ist er ihr „kleines Anhängsel“, wie sie ihn gern nennt. Sie selbst war früher bereits Opfer von Mobbing, da auch ihr Vater bereits in der Politik tätig war. Sie möchte nicht, dass ihrem Sohn etwas Ähnliches widerfährt. Sobald jedoch Stefan beginnt, Fragen rund um ihre Einstellungen und Beruf zu stellen, verschließt sie sich sofort. Sie beantwortet ihrem Sohn keine Fragen zu Politik und zwingt ihm ihre Partei bedingungslos auf. Nicht leicht für Stefan, der so zunehmend sein Vertrauen gegenüber seiner Mutter verliert. Denn schließlich ist er nicht mehr ihr kleines Anhängsel, sondern vielmehr ein guter Schüler und vor allem auf der Suche nach Antworten und Emanzipation. Oder wie es der Regisseur in einem kurzen anschließenden Videointerview formuliert hat: Er ist ein Mensch, dessen Bewusstsein noch nicht fertig geformt ist.
Im Dunklen gelassen
Cinematografisch bleibt der Film mit seinen Bildern gern nahe an seinen Akteuren. Die Straßen und Wohnungen von Belgrad wirken so sehr einengend und ausladend. Während ganz anfangs noch in der Freiheit und Helligkeit eines Obstgartens begonnen wird, taucht die Kamera ihr Setting zunehmend in immer tieferes Schwarz. Das Auseinanderdriften vom Protagonist und dessen Mutter wird dabei wunderbar unterstrichen und bekommt vor allem mit dem Inszenieren von Spiegeln viele weitere Ebenen, die den konstanten inneren Konflikt von Stefan perfekt darstellen.
Genauso wie der Film seine Charaktere wortwörtlich im Dunklen lässt, hat auch der Regisseur seine Schauspieler:innen gern im Dunklen gelassen. 2000 Kinderschauspieler hat es im Casting gebraucht, bis Vladimir Perišić die richtige Besetzung seines Hauptdarstellers fixieren konnte. Freunde im Film sind dabei auch Freunde im echten Leben und die ausgeübten Sportarten auch wirklich deren Hobbys. Denn an sein Drehbuch hat er sich nicht gern gehalten. Er möchte, wie im Interview erwähnt, dass seine Charaktere auch wirklich die des Films sind. So hat niemand der Schauspieler:innen das Drehbuch je gelesen, genauso wie der Film chronologisch abgefilmt worden ist. Das ist ein gewagter Schachzug, der dem Regisseur hier voll aufgeht.
Jovan Ginić, der Stefan spielt, ist dabei besonders hervorzuheben. Seine starren Blicke schaffen es fast spielerisch einfach, einen in seinen Bann zu ziehen. Seine Reaktionen auf die Scheinheiligkeit seiner Mutter, sein Wunsch, seine Freunde nicht zu verlieren sind alles Beats, die er ohne Probleme trifft und die man als junger Mensch auch sehr gut auf sich selbst projizieren kann.
Zwischen Autobiografie und Fiktion
„I don‘t think art should send any message“ ist ein Zitat des Regisseurs, das einen dann nochmal mit anderem Blick auf sein Werk schauen lässt. Denn sogleich auch der Film in seinem dritten Akt die konstante Steigerung hin zu einem Klimax etwas außer Augen verliert, setzt er mit dem Ende (das an dieser Stelle nicht gespoilert werden wird) nochmal ein umso deutlicheres Zeichen, das zum Nachdenken anregen soll. Auch wenn das dann leider zu aufgezwungen und wenig nachvollziehbar ist.
Perišić möchte keine Antworten auf etwas geben, sondern lediglich Fragen stellen. Fragen, die er sich selbst beim Aufwachsen mit einer Mutter in der Politik immer gestellt hat. Ob Fragen stellen aber nicht bereits eine Art „Message“ ist, die man an sein Publikum sendet, sei dahingestellt. Als Coming Of Age gibt einem der Film jedenfalls vieles zum Nachdenken mit, sofern man sich auch darauf einlassen will, und sich nicht gegen Ende in dunklen Bildern verliert.
Fazit
So sehr Stefan einfach ein normales Teenager-Leben haben möchte, so wenig ist es dann doch möglich. Lost Country ist ein sehr aufmerksam fotografiertes Porträt des Erwachsenwerdens, in dem sich inmitten der vielen Facetten des Lebens für Schwarz oder Weiß entschieden werden muss. Durch das gute Schauspiel kann man ihm dabei auch die ein oder zwei Hänger im Pacing verzeihen.
Eine zweite Vorstellung von Lost Country gibt es noch einmal am Crossing Europe am Samstag, 04.05. um 18:30 im City Kino 2.
Lost Country
OmeU
Regie: Vladimir Perišić
Serbisch
105 Minuten
Serbien / Frankreich / Luxemburg / Kroatien 2023
Mit Jovan Ginić, Jasna Đuričić, Miodrag Jovanović
filmfestival linz
30 april – 05 mai 2024
www.crossingeurope.at
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