Übers Verschwinden
Vergessen, Verblassen, Verloren und Verschwinden. So beschreiben könnte man den im Zuge ihrer Masterarbeit entstandenen Film „Stepne“ (Steppe). Die ukrainische Regisseurin Maryna Vroda erzählt eine metaphorisch geladene Geschichte der Vergänglichkeit.
In einer kalten winterlich grauen Einöde irgendwo im Hinterland der Ukraine pflegt Anatoliy seine sterbende Mutter. Mit liebevoller Ruhe sorgt er für einen würdevollen Abgang. Als die Mutter gestorben ist, kommt auch endlich der Bruder heim. Während der seine Trauer in hochprozentigem ertränkt, drückt sich Anatoly in feinfühliger handwerklicher Gestaltung aus. Bei der Beerdigung und der Trauerfeier erzählt die runzelige Gesellschaft alte Erinnerungen. Die Beziehung der beiden sehr unterschiedlichen Brüder beschränkt sich auf das Auflösen der materiellen Existenz ihrer Mutter. Alte Holzmöbel, Waschwannen, schwere Wintermäntel und andere Gegenstände, eines rauen Lebens werden davongetragen und finden für absehbare Zeit neue Besitzer*innen. Alles wird beseitigt, ein Leben verblasst und die Brüder gehen schweigend getrennte Wege.
Wann kommt er?
Vor dem rauen kalten Hintergrund nehmen mehr oder weniger gewöhnliche Dinge ihrem Lauf. Der Bruder, der erst nach dem Tod kommt. Die nicht vergessene, aber ausgebleichte Jugendliebe. Bekannte Motive in unbekannten und von allem vergessenen Ortschaften. Vroda zieht mit langen Kameraeinstellungen und vielen Landschaftsaufnahmen die Stimmung direkt in das Leben der Menschen. Umso rührender ist es, wie Anatoliy seine Mutter wäscht und sie nach ihrem Tod zeichnet. Sehr authentisch sind auch die runzeligen Gesichter und bemühten Stimmen der alten Frauen, die sich um die Rituale kümmern.
Verpackt in dem fiktionalen Film sind wahre Geschichten, erzählt mit Tränen, Lachen und immer wieder einem großen Schluck. Der Film spielt vor dem aktuellen Krieg. Er soll eine Vergangenheit aufarbeiten voller Leid und Armut, doch diese Vergangenheit ist noch nicht vorbei. Sie ist die Lebensrealität der Menschen und wird erst mit ihnen vergehen.
Schlechtes verschwindet später
Die alten Konflikte sind noch nicht verarbeitet oder verblasst und schon bricht ein neuer über die Menschen herein. Der Wunsch, das der Film kein Blick in die Zukunft dieses Landes ist, ist groß.
Im Gespräch nach dem Film rinnen Vroda die Tränen herunter, als sie die im Krieg Gefallenen erwähnt, die an ihrem Film mitgewirkt haben. Sie verwendet sehr oft das Wort „disappearing“ (deutsch: verschwinden), was als roter Faden durch den ganzen Film gezogen wird. Es beginnt mit der verschwindenden geistigen Präsenz der Mutter, gefolgt von ihrem körperlichen Dasein, dem Hab und Gut und schließlich der emotionalen Verbundenheit der Geschwister. Alles verschwimmt in die schwere Kälte der Landschaft.
„to act or not to act“
Maryna Vroda hat ihr filmisches können schon in der Vergangenheit bewiesen. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2011 bekam sie für „Cross“ die Auszeichnung für besten Kurzfilm. Für „Stepne“ erhielt Vroda bei dem Locarno Film Festival die Auszeichnung für beste Regie und ist bei Crossing Europe für den Audience Award und Best Fiction Film nominiert.
Fazit
Für leichte Unterhaltung ist man fehl am Platz. Maryna Vrodas Film „Stepne“ ist eine schwere und melancholische Geschichte auf der Leinwand. Wohl wie jeder aktuelle ukrainische Film überschattet von dem Krieg, was es nicht einfacher macht. Und doch ist der Film sehenswert. Mit viel Gefühl und Verständnis für die Menschen ziehen einen die Bilder in ihre Welt. Da schaut man schon zweimal, ob es wirklich Fiktion ist.
Der Film wird am 02.05.2024 um 16:45 Uhr im City 1 gezeigt, anwesend ist die Regisseurin Maryna Vroda.
Stepne
Regie: Maryna Vroda
OmeU, Ukrainisch / Russisch
114 Minuten
Ukraine / Deutschland / Polen / Slowakei 2023
Mit Oleksandr Maksiakov, Nina Antonova, Oleg Primogenov, Radmila Shchogolieva
filmfestival linz
30 april – 05 mai 2024
www.crossingeurope.at
Alle Artikel unter subtext.at/crossing-europe