Realität, Traum oder etwas dazwischen
Mit ihrem neuesten Werk „Unmöglicher Abschied“ zeigt Han Kang einmal mehr, warum sie eine der eindrucksvollsten Stimmen der Gegenwartsliteratur ist. Die Literatur-Nobelpreisträgerin 2024 lässt Realität, Traum und das brutale Schicksal einer koreanischen Insel miteinander verschmelzen.
Geplagt von Albträumen und der Hitze des Sommers schreibt die Autorin Gyeongha ihren Abschiedsbrief. Das Leben ist für sie abgeschlossen. Einzig der letzte Brief will nicht fertig werden. Immer wieder schreibt sie ihn neu. Bis das Neuschreiben ein Teil ihres Alltags wird. Der Sommer geht vorbei und es wird kalt. Als sie eine Nachricht bekommt, eilt sie sofort ins Krankenhaus zu ihrer Freundin Inseon. Diese hat sich bei Holzarbeiten zwei Finger abgetrennt. Diese wurden wieder angenäht, doch der Heilungsprozess der Nerven wird durch schreckliche Schmerzen begleitet.
Schmerz
Auf Drängen der Verletzten begibt sich Gyeongha nun auf den Weg, das abgelegene Haus auf der Insel Jeju. Dort sollte sie einen kleinen Vogel vor dem sicheren Tod retten. Der Weg und das Haus mitten im Schneegestöber lassen Realität, Traum und die brutale Kriegsgeschichte verschmelzen. An der Grenze zwischen Leben und Tod treffen sich die beiden Frauen, um das Schicksal der Insel und die Geschichte der Familie von Inseon zu verarbeiten.
Traum
Hang Kang ist keine Autorin für schwache Nerven. Seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ erlangt Kang internationale Bekanntheit und reißt einen mit ihrer brutalen Wortgewalt in ihre Welten. Wie im Fiebertraum fühlt man den Stress und die Kälte, erlebt die Traumata und fühlt die Leere. Definitiv keine Unterhaltungsliteratur. Aber einen intensiveren Einblick in das Kriegsleid, welches über Generationen weiter sickert, wird man selten finden. Die Geschichte ist wie ein eisiger Rahmen, darin zeichnet Kang ein düsteres Bild. Sie malt mit Schnee und Blut und reißt einen heißen Abgrund auf.
Tod
Han Kang baut mit einer perfiden Exaktheit die verschwommensten Szenen auf. Und wenn man das Gefühl hat, in der Geschichte angekommen zu sein, reißt sie einem den Boden unter den Füßen weg und stößt einen in ein schwarzes Loch. Die Gefühle, die durch die Alptraumbilder aufgebaut werden, finden sich später in den Erzählungen des Massakers wieder. So beschreibt annähernd jeder Traum eine Todesstätte der Kriegsopfer auf der Insel.
Eiskalt
Auch wenn sich dieses Buch nicht mit besonders schönen oder positiven Worten beschreiben lässt, kann man die sprachliche Brillanz der Autorin nicht genug bewundern. Andere bringe Liebe zu Papier, oder Lust oder Spannung, Kang hat Trauma und Depression zwischen zwei Buchdeckel gepackt. Sicherlich eine Schriftstellerin, die es sich im Original lesen lohnen würde. Allerdings würde es sich empfehlen, dieses Buch nur im psychischen Gleichgewicht zu lesen.
Unmöglicher Abschied
von Han Kang
Verlag Aufbau
315 Seiten, Deutsch, gebundene Ausgabe
€ 24,70 – jetzt bestellen
Disclaimer: Wir bekommen für die Artikel keine Bezahlung und verdienen auch nichts an Affiliate-Links. Aber wir unterstützen gerne den lokalen Buchhandel und empfehlen, nicht bei Amazon zu kaufen.