Gefangen auf kristallinen Splittern

 

In seinem 1966 veröffentlichten Roman „Kristallwelt“ verfrachtet der britische Skandalautor James Graham Ballard („Crash“) einen Arzt an einen Ort, wo weder Zeit, noch Leben, noch Tod eine Rolle spielen.Dr. Edward Sanders, ein Facharzt für Leprakranke, befindet sich auf einer Expedition nach Afrika. Zwei gute Bekannte übermittelten ihm eine Einladung nach Port Matarre, wo seltsame Vorkommnisse geschehen: Im afrikanischem Dschungel verändert sich die Flora und Fauna. Blumen, Bäume, Flüsse und sogar Tiere und Lebewesen verformen sich kristallin, jedes pulsierende Leben wird zu Kristall. Die Gründe liegen im Verborgenen. Das Militär schottet die gefährdetere Zone im Dschungel ab, doch die Anziehungskraft dieser neuen, unwirklich erscheinenden Realität, die sich zu bilden scheint, zieht den Doktor immer mehr in den Bann…

Schlüssel zu einer anderen Welt
J.G. Ballard gilt als einer, der seiner poetischen Intuition gefolgt ist und seine surrealistischen Ideen mithilfe von Drogeneskapaden auf Papier gebannt hat. „Kristallwelt“ erzählt eine märchenhafte, unwirklich erscheinende Parabel über unsere Welt und das Ende unserer Kultur. In diesem apokalyptischen Szenario gibt es kein „Happy End“ und kein Angehen gehen diese kristalline Transformation. Die Scheinwelt ist unsere Realität.

„Kristallwelt“ erzählt vom Einbruch von Angst und Irrationalismus in die Wirklichkeit. Dieser Kristallisationsprozess verändert unser Dasein, schiebt Tod, Zeit, aber auch dem Leben, einen STOP-Riegel vor. Jeder, der sich zu verändert beginnt, lebt zwar weiter, doch auf eine Weise, die wir uns nicht vorstellen können. Was explizit vor sich geht, erfahren die Charaktere sprichwörtlich am eigenen Leib, denn die Kristallisation macht auch vor dem eigenen Körper nicht halt. Ballards Figuren erfahren die Veränderung durch das sprichwörtliche Dabeisein. All das ist sehr ruhig und konzentriert beschrieben – und beunruhigend zugleich.

Je mehr Sanders in das Zentrum vordringt, desto stärker wird die dunkle Anziehungskraft. Dabei fungiert seine Figur als kritisch-distanzierte Instanz. Ballard verzichtet auf Heldentum und „Kristallwelt“ ist eine klare Abwertung der Heldenikonografie. Der Fokus liegt nicht auf den Taten, sondern auf den Motiven. Weshalb sieht beispielsweise der zwielichtige Pfarrer Balthus die Kristallisation als Werk Gottes an?

Fluss des „Lebens“
Das Traurige an „Kristallwelt“ ist, dass es inmitten dieser veränderten Welt nicht das Menschliche ist, was am meisten zählt. Hier muss der Mensch nicht kämpfen, auf seine Werte und auf seinen Überlebensinstinkt bauen, um inmitten dieser Bedrohung die Hoffnung zu bewahren, denn Hoffnung ist nicht von Nöten. Die Angst vor der Auslöschung ist zwar gegeben, doch überflüssig.
Vielleicht sind die Edelsteine ein wichtiger Satzbaustein zur nächsten Evolutionsstufe oder ein längst überfälliges Omen, um das Ende unserer Tage einzuleiten. Eine Abwendung scheint unmöglich zu sein.

Ballard reißt eine Vielzahl von Themen und Motiven an, aber es werden keine eindeutigen Thesen formuliert oder einfache Antworten präsentiert. Das Buch verhält sich wie ein Kaleidoskop unerwarteter Details und Assoziationen. Es obliegt dem Auge des einzelnen Betrachters, welcher Interpretation man den Vorzug gibt.

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Foto: Edition Phantasia

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