Logo des Diagonale Filmfestival vor dem Kunsthaus in Graz
Foto: Miriam Raneburger

Diagonale 2017: Untitled

Bei der 20. Ausgabe des österreichischen Film-Festivals Diagonale in Graz wird Nostalgie wenig Raum gegeben. Die komplexe Vorgeschichte und die Aufarbeitung der letzten zwei Jahrzehnte kann und soll wohl nicht Teil des Festivals sein – wir blicken neugierig nach vorn. Dafür wird Hansi Langs „Keine Angst“ quasi zur Hymne des runden Geburtstags erklärt.

Und so erwartet einen schon bei der Eröffnung in der Grazer List-Halle der übliche Reigen. Michael Ostrowskis mit viel Witz kaschierte, immer gleich gespielte Flapsigkeit, eine Eröffnungsrede der beiden Intendanten, die mit weniger als der Hälfte der Fremdwörter mindestens doppelt so gut geworden wäre, ein charmant schrulliger Bundespräsident, der wirkt, als hätte er beim Betreten der Bühne erst erfahren, wo er gerade ist und Johannes Krisch als Schauspielpreis-Gewinner, der seine Dankesrede in ruhiger, meditativer Art vorträgt.

UNTITLED von Filmladen_Lotus-Film

Der Eröffnungsfilm ehrt 2017 einen langjährigen Festivalgast. Michael Glawogger begab sich 2013 auf eine Reise durch Italien, über den Balkan und durch Nordwest- und Westafrika, um sein Opus Magnum, einen Film ohne Namen, zu drehen. Aus Mali sendet er 2014 eine Videobotschaft ans Festival, da er bei der Premiere seines ORF Landkrimis nicht anwesend sein konnte. In Westafrika erkrankte er dann an Malaria, an der er innerhalb weniger Tage im April 2014 verstarb. Aus seinem Material hat nun seine langjährige Wegbegleiterin und Editorin Monika Willi sein Werk vollendet. UNTITLED zeigt Beobachtungen, Begegnungen und Landschaften mit Glawoggers bekannt unverfälschtem Blick. Er wollte keine Geschichte erzählen, aber einen Film schaffen der am Puls bleibt, neugierig macht. Wer etwas erleben will muss reisen – und Untitled macht Lust aufs Erleben.

Zwei Gute, zwei Schlechte und ein Ungesehener Film

Fünf Filme am ersten Festivaltag, das ist ambitioniert. Zwei davon hab ich gewählt um nicht den ganzen Nachmittag in Graz in der Sonne sitzen zu müssen – man ist ja schließlich fürs Filmfestival hier. Im Nachhinein betrachtet nicht die beste Entscheidung. Liebe Möglicherweise und Hotel Rock’n’Roll hätte ich mir besser sparen können, dafür haben mich „Ein Deutsches Leben“ und „Vor der Morgenröte“ wirklich beeindruckt. Einen Film hab ich einfach nicht mehr erwischt, die Zeit für den Weg von Kino zu Kino ist manchmal einfach zu knapp.

Ein Deutsches Leben von Blackbox-Film-Medienproduktion-GmbH

Die Dokumentation „Ein deutsches Leben“ stellt Interviewsequenzen mit der 103jährigen Brunhilde Pomsel Filmmaterial aus der Zeit gegenüber. Pomsel war von 1942 bis 1945 Sekretärin von Joseph Goebbel im NS-Propagandaministerium. Die Fragen sind im Film nicht zu hören, die Kamera ist starr auf das zerfurchte Gesicht der wachen und noch immer charismatischen Dame gerichtet. Sie erzählt die Geschichte, ihre Geschichte, die man schon so oft gehört hatte. Man habe ja nichts gewusst, nichts wissen können, und, man hört es auch heraus, nichts wissen wollen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Diese Lebenslüge erhält sie aufrecht, auch wenn sie sich in Widersprüche verwickelt.

Doch statt diese direkt zu entlarven, werden Sequenzen aus Propagandamaterial der NSDAP aber auch der Alliierten gezeigt, die viel zu oft als neutrale Berichterstattung missverstanden wurden und noch immer werden. Für diese vermeintliche Nicht-Haltung zu Pomsels Aussagen im Interview wurden die Filmemacher nach dem Screening auch mehrfach kritisiert. Sie konnten ihre Beweggründe allerdings auch nicht klar darlegen. Ihrer Meinung nach können mündige KinobesucherInnen die Lügen entlarven, es bedarf keiner brachialen Konfrontation. Dass der alten Dame allerdings auch eine Bühne geboten wird, um die von einer ganzen Generation verinnerlichte Verdrängung zu legitimieren, wird von den vier Regisseuren nicht als Problem wahrgenommen.

Dieser Film benötigt eine begleitende Moderation und Diskussion, für sich alleine kann er missverstanden werden. So lief ein älterer Herr noch während des Abspanns mit lautem Buh-Ruf aus dem Saal, das restliche Publikum reagierte sichtlich irritiert. Auf welcher Seite er nun Stand und warum er mit dem Film unzufrieden war lässt sich allerdings nicht sagen. Beide Lesarten sind möglich.

Von Katzen und Vögeln

Der zweite Tag in Graz wird tierisch, oder zumindest sexuell. Wieso Sex beim Film Kater so im Mittelpunkt steht ist mir allerdings nicht ganz klar. Um die Geschichte zu erzählen wärs nicht nötig gewesen, die Handlung läuft ohnehin nur recht schleppend dahin. 30 Minuten weniger hätten dem Film gut getan. Ugly hingegen hat mich gänzlich überrascht. Wenn einer Dokumentarfilmer seinen ersten Spielfilm dreht, dann noch ohne großes Konzept und mit minimalem Drehbuch loslegt, kann spannendes entstehen. Und so erzählte Maria Hofstätter im Filmgespräch, dass sie eine der stärksten Szenen im Film als an Alzheimer Erkrankte betrunken und mit einem Blackout spielte und das Ergebnis erst später im Kino sah – Method-Acting bis zur Selbstaufgabe.

Die Mitte der Welt von Universum Film / Paul Ploberger

Die Mitte der Welt dürfte der diesjährige Coming-Of-Age-Film sein, der alle begeistert. Das bereits Ende der 90er veröffentlichte Buch schien unverfilmbar und bereits zwei Produktionsfirmen waren in den letzten Jahren daran gescheitert, bevor Jakob M. Erwa endlich die Rechte daran bekam. Schon seit seiner Studentenzeit war er mit dem Autor in Kontakt und wollte den Film unbedingt machen. Die Geschichte rund um Phil, seine Familie, seine beste Freundin und den Neuen in der Klasse bietet alles: die erste Liebe, eine Dreiecksbeziehung, einen unbekannter Vater, eine unkonventionelle Mutter und so weiter. Man merkt, dass ein dicker Roman als Vorlage viel Inhalt bot, der extrem reduziert werden musste. Das Material hätte auch für drei Filme gereicht. Unglaubliche 1200 Leute wurden für die Hauptrollen gecastet, um das perfekte Zusammenspiel zwischen den Charakteren zu finden. Die Filmmusik spielt eine große Rolle, da der Film mit Montagen und anderen aus Musikvideos bekannten Stilmitteln arbeitet.

Menschen und andere Tiere

Ulrich Seidls Safari zum Frühstück scheint ein paar KinobesucherInnen auf den Magen geschlagen zu haben. Naive Großwildjäger und viele tote Tiere werden in bekannter weise porträtiert und in bizarren Tableaus arrangiert. Wer schon immer mal eine Giraffe von innen sehen wollt, das ist die Gelegenheit. Bizarres Detail am Rande: Seidl erzählt, das sowohl Jägerinnen als auch TierschützerInnen diesen Film als Statement für ihre Standpunkte verstehen.
In Free Lunch Society wird dem Ursprung des bedingungslosen Grundeinkommens nachgeforscht, das aus der futuristischen Perspektive des Dokumentarfilms im Jahr 2300 bereits seit Jahrhunderten existiert. Beginnend in den 1960 Jahren, setzten sich schon ein halbes Jahrhundert große Ökonomen, amerikanische Präsidenten aber auch kleine Kommunen mit dem Thema „Geld für alle“ auseinander. Nach unzähligen Studien, Feldversuchen und BürgerInnenbewegungen ist es doch nur mehr eine Frage der Zeit, bis wir in der Zukunft ankommen.

Die Migrantigen by Golden Girls

Von einem Ghetto ins andere fallen die beiden Figuren von Die Migrantigen. Vom Hipstertraum des Fixie-fahrenden Agenturchefs und des erfolglosen Schauspielers werden Marko und Benny zu den Stars der TV-Dokusoap im fiktiven Wiener Rudolfsgrund. Eine Journalistin fällt auf der Suche nach mehr Einschaltquote auf die beiden herein und so beginnt eine explosive Dynamik. Der Film von Arman T. Riahi lässt kein Klischee aus, nimmt stereotype Bilder der „Migrationsproblematik“ aufs Korn, ist erfrischend nicht politisch korrekt und sorgt dabei für viel Unterhaltung. Die Österreichpremiere diesen Freitag war innerhalb von vier Minuten ausverkauft, es gab Standing Ovations für das riesige anwesende Team und eine Extravorstellung wurde beim Festival eingeschoben. Das lässt auf einen erfolgreichen Filmstart diesen Sommer hoffen.


Film-Voting :

UNTITLED4/5 Punkte
Liebe Möglicherweise1/5 Punkte
Hotel Rock’n’Roll
Ein deutsches Leben5/5 Punkte
Vor der Morgenröte4/5 Punkte
Kater2,5 Punkte
Die Mitte der Welt
Ugly
Safari4/5 Punkte
Free Lunch Society4/5 Punkte
Die Migrantigen
Egon Schiele – Tod und Mädchen4/5 Punkte
Die Beste aller Welten5/5 Punkte
Hölle

photographer, designer, journalist