“Hamburger Gitter / Hamburg Grids”: Ist das noch Rechtsstaat?

“Es gab keine Polizeigewalt” meinte der damalige Hamburger Oberbürgermeister und jetzige Finanzminister Olaf Scholz (SPD) nach dem G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017, bei der bei Kundgebungen mehrer Hundert Demonstrant*innen durch die Staatsgewalt verletzt wurden. Es war der größte Polizeieinsatz Deutschlands seit 1945. Bis heute stehen die Ereignisse für eine Zäsur in Sachen Demonstrationsfreiheit, Unschuldsvermutung und Pressefreiheit, Grund genug für die Regisseure Marco Heinig und Steffen Maurer darüber eine Dokumentation zu drehen. Ein Fazit vorweg: aus einer Low-Budget Produktion entstand ein absolut gelungener und sehenswerter Film.

In unchronologischer Reihenfolge äußern sich diverse Beteiligte und Expert*innen (Journalisten, Soziologen, Polizeigewerkschafter sowie ein Polizeisprecher, der natürlich ganz andere Meinungen vertrat) zu den Ereignissen auf den vielen Demonstrationen, die binnen weniger Tage in der Hansestadt stattfanden. In diversen Videos wird das autoritäre und gewalttätige Auftreten der Polizei festgehalten, die einen zwischenzeitlich vergessen lassen, dass es sich nicht um Ankara oder Moskau handelt. Neben dem großflächigen Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray erschreckt vor allem das hemmungslose Hinknüppeln auf Demonstrant*innen, die teilweise bereits am Boden lagen, oder das Drängen ganzer Demonstrationsblocks auf Engstellen und Zäunen sowie das erstmalige Einsetzen von Gummigeschossen, was zu unzähligen Schwerverletzten führte.

Beleuchtet wird auch die Aushebelung jeglicher Privatsphäre. Schon bei der Ankunft der Demonstrant*innen am Hauptbahnhof wurden durch Gesichtserkennung per Kamera Karteien erstellt, die der Polizei bis heute vorhanden sind. Bereits die Beteiligung an einer Demo, bei der illegale Handlungen geschahen, reichte aus für Monate lange Verfolgung durch stille SMS, dauerhafte Ortungen oder Abhören des Telefons. Auch an der Tagesordnung standen sinnlose Hausdurchsuchungen an Arbeitsplätzen oder Elternhäusern, die nur zur Diskreditierung der Betroffenen dienten. Besonders erschreckend war der Druck, der seitens der Politik auf die Justiz ausgeübt wurde, was dazu führte, dass schwammige Begründungen reichten, um vermeintliche Täter Monate lang in U-Haft zu stecken oder Teenager aufgrund fadenscheinig wirkender Polizeiaussagen in Eilverfahren zu mehreren Jahren langen Haftstrafen zu verurteilen. Ebenfalls bedenklich war der aggressive Umgang mit Journalist*innen, der dazu führte, dass diese oft entweder keinen Zugang bekamen um Bericht erstatten zu können, oder ihnen gleich die Akkreditierung entzogen wurde. Es fällt schwer, all diese Maßnahmen nicht mit George Orwells 1984 zu assoziieren.

Insgesamt beeindruckt der Film durch scharfe Aufnahmen der Geschehnisse sowie interessanten Interviewpartner*innen. Spannend sind die Gegenschnitte von idyllischen Straßen und Plätzen an Alltagen und der plötzlichen Einblendung des Chaos von damals an gleicher Stelle. Es wird wenig über die Krawalle im Schanzenviertel berichtet und zeigt mehr die Seiten des G20-Wochenendes, über die von Boulevard und anderen konservativen Medien kaum bis gar nicht nicht berichtet wurde. “Der G20-Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit“ lautet der Untertitel der Doku und zeigt wohin der Trend im Umgang mit freier Meinungsäußerung geht. Die Polizei rüstet technisch immer weiter auf und entwickelt sich mehr und mehr zu einer paramilitärischen Miliz, die sich in “Ausnahmesituationen” an keinerlei Grundrechte mehr hält. In zahlreichen Bundesländern kam es zusätzlich noch zu neuen Polizeiaufgabengesetzen (z.B Bayern), die die Rechte der Staatsgewalt auf Kosten der Freiheit des Einzelnen ausbauten. Nach Ende der 80 Filmminuten fragt man sich schon: “Was man da gerade gesehen hat, ist das noch Rechtsstaat?”?

Zu sehen ist „Hamburger Gitter“ im Rahmen des Crossing Europe Filmfestivals am 29. und 30. April um 20:00 in der KAPU.

Hamburger Gitter
Steffen Maurer, Luise Burchard, Luca Vogel, Marco Heinig
Deutschland 2018
77 Minuten
Deutsch
dOF
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