RADIOHEAD: Nachtschwimmer

Rätselhaft, kühl und kryptisch. Spröde, schlaftrunken und melodramatisch. Songs in alphabetischer Reihenfolge und eine Sehnsucht nach Tiefe in einer schnelllebigen, sich schnell wandelnden Zeit. Die Band, die Beulen und Wellen mit Absicht in ihren Sound schlägt, ist zurück. „A Moon Shaped Pool“, das neunte Album von Radiohead, beschwört das Verschwinden der Existenz im Digitalen. Kalter Entzug mal anders. Und Tschüss.

By Alex Lake

Für die einen ist es die längste Praline der Welt, für die anderen nur eine weitere Radiohead-Platte. Ihre Verehrer rühmen die Engländer für die Ernsthaftigkeit ihrer Kunst, für die Schönheit und Schwere ihrer musikalischen Gedanken, ihre Gegner sind von dieser Vorstellung wenig bis gar nicht angetan. Die Fans sehen in Thom Yorke einen Messias, die Hater halten den Sänger für einen nuschelnden Jammerlappen. Gleichwohl oder gerade deswegen gehört die Band jahrzehntelang zu den zugkräftigsten Pferden der Popkultur.

Der Abbau von Strukturen, der damit obsolet werdende Anspruch auf Überprüfbarkeit in einer vernetzten globalen Welt, scheint die Band 2016 zu interessieren. Mechanismen des Marketings und der Industrie werden von der Formation gerne ignoriert und so waren Radiohead kurz vor der digitalen Veröffentlichung von „A Moon Shaped Pool“ in allen Social-Media-Plattformen unauffindbar, sprichwörtlich Weg vom Fenster – aber warum? Genügt es denn, sein Facebook-Profil zu deaktivieren, seinen Instagram-Account zu löschen oder Snapchat einfach fern zu bleiben? Nach dem Motto: Wenn jemand schon nach uns sucht, so müssen wir noch von Bedeutung sein, oder? Der Wunsch zu verschwinden, spurlos, sich einfach in Luft aufzulösen, „How To Disappear Completely“, da war doch mal was… Die Flut an Bildern und Daten, diese neue Form der Zerstreuung, die Aufgrund der Technik Überhand nimmt. Sind wir nicht schon lange in der Auflösung begriffen? Ist die Virtualität also weniger ein Problem der Technik als der eines Menschen?

Cover

Erratisches Songwriting, mal verträumt („Daydreaming“) und filigran („Glass House“), mal Groove-lastig („Identikit“) und düster („Ful Stop“), in bester Ebbe und Flut-Manier beherbergt jedenfalls das Album. Akustische, countryfizierte Folk-Ausflüge wie in „Desert Island Disk“ wechseln sich mit elektronischen Songs ab, die seltsame Titel wie „Tinker Tailor Soldier Sailor Rich Man Poor Man Beggar Man Thief“ tragen. Yorke führt abermals wie ein Zeremoniemeister durch ein Album im Shuffle-Modus. Die Single „Burn The Witch“ kann ohne Zweifel zu den Höhepunkten gezählt werden, trumpft sie doch mit fantastischen Streichern auf und steuert genüsslich auf eine unausweichliche Klimax zu, wie man sie von der Gruppe selten gehört hat.

Bevor die Platte mit den eher mediokren Liedern „Present Tense“, „The Numbers“ und dem schon erwähnten „Tinker Tailor…“ beendet wird, wartet noch „True Love Waits“ mit der Erkenntnis auf den Hörer, dass hinter der Patina der Liebe und auch des Verschwindens tatsächlich Melancholie liegt.

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Foto: Alex Lake

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