Foto: Larissa Schöfl

Martin Kohlstedt – alles hat Lust zu diskutieren

Der Weltstar aus Thüringen zählt zu den herausragenden Komponisten, Pianisten und Produzenten für instrumentale Musik und Electronica. Martin Kohlstedt erhielt für seine Werke internationale Anerkennung, begleitet von Konzertreisen auf der ganzen Welt. Vergangenen Donnerstag erneut zu Gast im Linzer Posthof.

Vogelgezwitscher, Nebel, Tastenklänge. Ein grünes Licht flackert auf und geht wieder aus. Der mittlere Saal des Posthofs gibt einem heute das Gefühl, in einen Wald hineinzuspazieren. Der gesamte Raum ist bestuhlt und es finden sich rund 300 Menschen ein, die an diesem Donnerstagabend für Martin Kohlstedt in die Posthofstraße gekommen sind. Die Atmosphäre in diesen Gemäuern wirkt so beruhigend, schon bevor das Konzert losgeht taucht man in eine Welt abseits des alltäglichen Trubels ein. Auf jedem Stuhl liegt eine kleine Postkarte. Sie zeigt ein Bild des Pianisten, sich auf dem bemoosten Boden eines hügeligen Waldstückes ausruhend.

Sehr pünktlich um 20 Uhr betritt Martin Kohlstedt die Bühne. Mit einer wertschätzenden Geste werden wir begrüßt. Sein Weg führt jedoch direkt ans Piano und kurz darauf erklingen die ersten Töne. Eine Abfolge aus Versen und Melodien lassen uns tief ins Stück hineingleiten und leise werden. Ein ca. 15-minütiges Intro später ist Martin warmgespielt und bereit, ein paar begrüßende Worte zu sagen. Er und sein Team, welchem im Laufe des Abends immer wieder großer Dank ausgesprochen wird, sind nun am halben Weg ihrer Tour angelangt. Mittlerweile ist er als Person, die unten vorm Bühnenaufgang steht schon beinahe dieselbe, die sich vor dem Publikum wiederfindet. Wohl auch Menschen mit großer Bühnenerfahrung können die Nervosität lang mit sich tragen.

Die Kunst der Improvisation

Er freut sich jedenfalls, wieder in Linz zu sein, und stellt fest, dass beinahe doppelt so viele Leute da sind als bei seinem letzten Besuch. Neben dem Künstler steht ein Bösendorfer Flügel, Synthesizer, Loop Station sowie Sound- und Drummachines auf der Bühne. Dann beginnt mehr oder weniger der erste „Song“. Relativ schnell wird eine musikalische Philosophie aufgebaut. Es wird laut, alles was da grad entsteht schreit uns direkt ins Gesicht. Wumm. Spätestens jetzt hat er alle zusehenden Personen völlig in seinen Bann gezogen. „Es geht in die richtige Richtung“, stellt der Musiker nach der ersten Darbietung fest. „Alle Stücke stehen in Flammen“.

Martin Kohlstedt als live praktizierenden Musiker zeichnet ein beachtliches Alleinstellungsmerkmal aus. Er trägt nicht seine fertigen Songs vor, sehr vieles was auf dieser Bühne entsteht ist Improvisation. Als Kind schon beginnt Martin Kohlstedt Musik zu erfinden. Er hat sich seit Beginn an musikalische Module gebaut, die er heute, mehr als 20 Jahre später, immer wieder verwendet. Bei jedem Auftritt entsteht etwas Neues daraus. Jedes Konzert ist anders und niemals gleich. „Seitdem ich 12 war sammle ich diese Argumente. Jetzt kommt die Diskussion.“, so der Künstler.

kontrolliert unkontrolliert

Im Laufe des Abends werden uns zwei Methoden erklärt, wie die Abläufe seiner Konzerte entstehen können. Zum einen nutzt er seine Bausteine als Portal, um zurückzukehren zu seinem 16-jährigen Teeanger-Ich. Einer Zeit, wo die Leute normal zu ihm waren. Bevor sich die Haltung ihm gegenüber aufgrund eines gewissen Ruhms geändert hat. Wo so viel entstanden ist. Er kann sich in einen meditativen Zyklus versetzten, wie er es nennt. Und so zu dem Kern seiner musikalischen Identität zurückkehren. Aus dem entsteht das Meiste. Die andere Methode ist das kalte Wasser. Ohne zu zögern springt er hinein: er wählt eine schwierige Tonleiter und stellt sich selber die Challenge, daraus etwas zu machen. Er meint, nach diesem tollen Start in den Abend, kann man diesen auch wieder hinfällig machen. Bewusst über das Risiko, dass es auch kippen könnte, stellt er sich selber schwierigen Herausforderungen.

Zwischen der Achterbahnfahrt kommt wiedermal ein ruhiges Pianostück, das Ruhe reinbringt. Anhand der Kommentare zwischen den Interpretationen hört man die Gedankengänge, die Fragen, in welche Richtung geht es, nach innen, nach außen, geht es noch weiter, oder zurück? Habt ihr Ideen? Da geht noch was. Wir sind hautnah dabei und schauen zu, wo die Reise hingeht. Wir sind stetig im Moment – was als nächstes passiert weiß er selbst nicht, und kann es auch nicht beeinflussen. Die Dinge kommen, wie sie kommen. Er spürt es, wenn noch etwas da ist, das härter raus muss, wenn noch etwas fehlt. Was denn dann fehlt, und wie es direkt zu uns kommt. Ganz nebenbei entschuldigt sich Martin Kohlstedt, falls jemand im Publikum ein ordinäres Klavierkonzert erwartet hätte.

Die visuelle Darbietung

Martin Kohlstedt diskutiert auf der Bühne mit dem Publikum

Abgesehen von Musik möchte ich das Licht nicht unerwähnt lassen. Die visuellen Eindrucke haben an diesem Abend auch stark mitgespielt. Es wurden viele Räume aufgemacht. Im Handumdrehen wurden diese wieder geschlossen und das gesamte Bild war wieder zentriert auf den Musiker und seine Instrumente in der Bühnenmitte. Es wurde auch mit sehr sehr viel Haze gespielt. Ab und zu wurde der Bühnenraum wüst eingenebelt. Das erzeugte eine sehr mystische und geheimnisvolle Stimmung und lies den Fokus einzig und allein auf seine Person fallen. Gleichzeitig holt es einen auch immer wieder zurück in den Wald, in dem wir uns doch befinden. Der einzige Nachteil an den Geräten ist halt leider die Lautstärke. Grad bei den ruhigen Nummern ist es mir persönlich nicht gelungen, diesen konstanten Geräuschpegel auszublenden.

Der Wald und das Tagebuch

Gegen Ende des Abends geht Martin „raus aus seiner rechten kindlichen Gehirnhälfte“ und teilt uns zwei seiner größeren Anliegen mit. Der Musiker konnte im Laufe seines Seins zusehen, wie der Wald in dem er aufgewachsen ist, rund um ihn gestorben ist. Es ist ihm daher ein persönliches Anliegen, die Wälder in seiner Heimat Thüringen wieder aufzubauen. Es wurden mit den Erlösen seiner Musik und dem Engagement Freiwilliger bereits über viereinhalb tausend Bäume gepflanzt. Daher auch die Postkarte auf unseren Stühlen: „The Forest – Ein Wald für die Zukunft“. Martin Kohlstedt widmet sich seit 2019 mehreren Aufforstungsprojekten, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Mehr dazu hier: martinkohlstedt.com

Als zweites Anliegen möchte er uns sein Tour Tagebuch ans Herz legen. Nachdem jedes Konzert recht anders verläuft, soviel entsteht, einfach so wie es eben passiert, möchte er diese Abende festhalten. In Form von Worten, Fotos oder Videos – Erinnerungen an diese einzigartigen Abende. Alle sind eingeladen, etwas beizutragen: diary.martinkohlstedt.com

Nach 75 Minuten teilt uns Martin mit, dass er nun Butterweich und aufgelockert ist. Eines fehlt jedoch noch. Ein Stück fehlt noch für den heutigen Abend, damit „macht er das Buch zu“. Er verlässt dazu das „im Moment sein“ und spielt als Ausnahme und einzigen tatsächlichen Song, den man benennen kann und der Konzept hat, den Titel „Jin“. Ein Konzert von Martin Kohlstedt ist keine Abfolge seiner bestehenden Songs. Es ist eine Expirience, eine Reise mit ihm durch seinen Kopf und seine Gefühlswelt. Ohne dass man es mitbekommt springt man auf diesen Zug auf und fährt die Reise mit. Die Reise ist aufregend, anregend, chaotisch aber bestimmt, es ist kaum vergleichbar und irrsinnig schön.

Fazit

Martin Kohlstedt scheint eine sehr genügsame Person zu sein. Musikalisch ist er eine Wucht – im positivsten seiner Sinne. Es ist schön ihm zuzuschauen, sein ganzer Körper lebt die Musik, es bebt, es brodelt, der 16-jährige Spirit ist nicht zu übersehen. Die Person, deren beide Hände und beide Füße zur gleichen Zeit verschiedenste Dinge machen, der Geist der beinahe überquellt, verschmelzen in ein großartiges audiovisuelles Bild. Die Instrumente auf der Bühne werden Eins mit dem Menschen der sie dirigiert. Vom Publikum Standing Ovations. „Ihr seid ja cool“, wir haben das Ende wohl nicht ganz verstanden und darauf hin gibt es eine kurze Zugabe. Ein kleiner Wink mit großem Dank, geht er von der Bühne ab und das Konzert ist nach knapp 1 1/2 Stunden vorbei. Wir wachen auf und finden uns wieder im Wald. Vogelgezwitscher, Nebel, Tastenklänge.

Martin ist direkt im Anschluss des Konzerts beim Merch-Stand vorzufinden und freut sich sichtlich über den Austausch mit seinen Zuhörerinnen und Zuhörern. Nach Ende des Abends stellt sich mir nur eine Frage: war das wirklich eine Diskussion? Ich sah eine ganz klare Ansage. Auch wenn das vorher noch niemand wusste.

Fotos: Larissa Schöfl

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