Space is the place: LADY GAGA und ihre Expedition zum Planeten CHROMATICA

Blühende Fantasie oder ein gewaltiger Dachschaden? Authentisch oder alles nur aufgesetzt? Je nach Gusto gehen die Meinungen abermals auseinander. Beim sechsten Album ihrer Karriere setzt Stefani Germanotta alias Lady Gaga erneut auf die Kontroverse. „Chromatica“ will uns schrill und unvermittelt sagen: Seid anders, brecht aus, raus aus den starren Regeln der Gesellschaft und vergesst nicht, Spaß dabei zu haben. Jeder Steher soll zum Tänzer werden. File under: Dance the pain away.

Extraterrestrische, fondantartige Botschaften aus dem Raum-Zeit-Kontinuum, mittels Teilchenbeschleuniger direkt auf die Tanzfläche projiziert. Pinkfarbene Zuckerwatte und Selbstverortungssongs. Weltraum-Pop, das echte Leben und die rosarote Brille. Willkommen im nächsten, grell und bunt ausgeleuchteten Themenpark. Mit „Chromatica“ schießt sich Lady Gaga in eine technoide, filmreif inszenierte Umlaufbahn. Man fragt sich: Passt das zusammen? Und falls ja, wie? Zuletzt hatte man schon Befürchtungen. Die Energie des Überdrehten vermisste man doch schmerzlich, weil noble Zurückhaltung an der Tagesordnung stand. Lady Gaga war ja immer etwas anders als die üblichen Pop-Interpretinnen. Mit ihren letzten, regulären Studioalben „ARTPOP“ und „Joanne“ lief sie dann doch Gefahr, sich allzu sehr in Obskurem oder Belanglosem zu verstricken. Man darf mit Erleichterung feststellen, dass Gaga für ihre Verhältnisse noch einmal die Kurve gekriegt hat. Die Jazz-Hommage „Cheeck To Cheeck“ mit Interpret Tony Bennett sowie den Hollywood-Exkurs mit „A Star Is Born“ lassen wir mal außen vor. Mit „Chromatica“ ist sie gewillt, an die Hitdichte ihrer bisherigen Schlüsselwerke anzuknüpfen. In ihren neuen Songs stecken, trotz oberflächlich aufblitzenden Traumata, wieder Leichtigkeit und Selbstvertrauen.

„My name isn’t Alice, but I’ll keep looking, I’ll keep looking for Wonderland“, heißt es exemplarisch in der Lewis Carroll-Verbeugung „Alice“. Trotz der Dancefloor-Ästhetik gibt es Hinweise auf größere Nachdenklichkeit. Die 34-Jährige ist diesmal an Sollbruchstellen interessiert, an denen sich Zivilisation und Zivilisiertheit aufzulösen beginnen. Über den Zustand des sozialen Gemeinwesens sinnieren die sogenannten Kindness Punks, die auf dem Planeten Chromatica weilen. Die weit nach draußen gestellte Exaltiertheit hat jedenfalls wieder dazu geführt, es mit einem halben Dutzend Hits zu tun zu haben. „Chromatica“ ist von solch schmelzender Lust an der Melodie bestimmt, dass vergangene Großtaten wie „Bad Romance“, „Poker Face“ oder „Born This Way“ wie ein Subtext unter dem neuen Material liegen.

Das ist ohne Zweifel Arena-Pop, der nicht mehr den Biss der früheren Jahre, aber dennoch seine Momente hat, weil diese Songs aus Tiefen der Selbstermächtigung schöpfen, groß und episch, bunt und schrill sind. Musik für Menschen, die ihren Pop gerne eingängig und paukenumtrommelt haben. Musik, die immer noch erfreut und verzaubert, allerdings nicht mehr ganz so sehr erstaunt. Nichts ist innovativ oder bahnbrechend, die Duette mit Ariana Grande, Blackpink und Elton John nicht besonders erwähnenswert, das meiste jedoch von unzähligen Produzenten wie Schwedens Urgestein Max Martin unterhaltsam arrangiert. Diese Melodien klingen einem bei der Heimfahrt im Kopf weiter nach, überwältigende Fieberräusche bleiben dennoch aus. Den Prunk ihrer großen Konsensalben „The Fame“ beziehungsweise „The Fame Monster“ und „Born This Way“ erreicht sie zwar nirgendwo so ganz, aber es gelingen ihr auch auf „Chromatica“ einprägsame Momente. „Enigma“ etwa, das losgelöste „Free Woman“, das befreit klingende „1000 Doves“ oder die Madonna-Verneigung „Babylon“, die dafür sorgen, dass trotz aller Unbill an das Gute geglaubt wird.

Tracklist:
01. Chromatica I
02. Alice
03. Stupid Love
04. Rain On Me (with Ariana Grande)
05. Free Woman
06. Fun Tonight
07. Chromatica II
08. 911
09. Plastic Doll
10. Sour Candy (with Blackpink)
11. Enigma
12. Replay
13. Chromatica III
14. Sine From Above (with Elton John)
15. 1000 Doves
16. Babylon

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Fotos: Universal Music

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