Tadel, Trauma & Tête-à-Tête: 20 Jahre MER DE NOMS
Der Himmel ist blutrot gefärbt, das Wasser trüb und gerettet werden wir durch Jesus sowieso nicht. Wer „Mer De Noms“, das französisch betitelte Debütalbum der sogenannten Supergroup A Perfect Circle, in vollem Umfang und vor allem in seiner ganzen Tiefe begreifen will, muss sich auch zwanzig Jahre später intensiv damit auseinandersetzen, um den ausgewiesenen Sinn für Dramatik und Selbstbewusstsein nachvollziehen zu können.
Ein mit Efeu überwuchertes, verwunschenes Märchenschloss, kunstvoll ornamentiert. Ein musikalisches Mozaik von seltener Stahlkraft. Ein Schimmer im Kerzenschein. Weniger verklausuliert: Ein warm klingendes Album, fiebrig heiß, mal schleppend schwül. Musiker, die ihr Handwerk verstehen, eine Einheit bilden. Es geht um den Glauben, um Sünde und Vergebung. Maynard James Keenan (Tool), Billy Howerdel (ehemaliger Gitarenroadie bei Nine Inch Nails) Paz Lenchantin (nun bei den Pixies), Troy Van Leuween (Failure, Queens Of The Stone Age) und Josh Freese (Devo, Vandals) erläutern diesen Themenkomplex im Jahr 2000 nicht nur aus der biblischen, sondern aus der gottlosen Perspektive. Wo steht der Mensch, wenn er seine Überzeugungen verliert? Mit „Mer De Noms“ erschaffen sie damit eine Blaupause für alles, was da noch folgen sollte.
Um die Jahrtausendwende heißt es zuerst warten. Die Welt hält wie Flitzebögen Ausschau nach einer neuen Platte der Prog-Metaller Tool, stattdessen erscheint „Mer De Noms“. Dieses sehr erfolgreiche Debütalbum definiert 2000 das, was man allgemein unter Supergroup oder Allstarprojekt tituliert. Die Nachricht, bei A Perfect Circle handele es sich dennoch nicht um ein reines Album-Projekt, sondern um eine neue, richtige Band, erstaunt anfänglich dann doch Fans und Fachpresse zugleich. A Perfect Circle betören mit Artrock-Elegien, die aus Metal und Alternative schöpfen und gelegentlich heftig rocken, andererseits mit atmosphärisch schillernden Balladen begeistern. Die Songs sind immer wieder mit prächtigen Hooklines ausgestattet, anders als bei Tool, die sich meist sofort und unmittelbar festsetzen. Der dramatische Opener „The Hollow“ etwa, mit seinen hymnischen Überschwang, schraubt sich bereits am Anfang in schwindelnde Höhen, bevor es in Songs wie „Rose“ um Abhängigkeiten oder in „Magdalena“ nach der Glückssuche in bezahlter Zweisamkeit gesucht wird.
Die von biblischer Symbolik geprägte Lyrik stellt musikalisch Sakrales („Orestes“) neben Epochalem („Thomas“). Die manische Besessenheit („Thinking Of You“) lässt die damalige Konkurrenz schon recht blass aussehen. „Mer De Noms“ verhält sich wie ein Schiff in schwerer See, glänzt mit atmosphärischen Tiefe, die teils dramatische, teils aufwiegelnde Emotionen erzeugt und die sich nur noch beim Nachfolger „Thirteenth Step“ (2003) klaustrophobischer, schlicht besser herauskristallisiert. Es ist die Stimme von Maynard James Keenan, die zusammenhält und, ja, verzaubert. Er singt, seufzt, schluchzt („3 Libras“) oder keift mit verletzlichem Gestus, brüllt in seiner Wut und Bestürzung, Abscheu und Verzweiflung („Judith“). Das Songwriting-Verständnis vom damaligen Newcomer Billy Howerdel tut sein Übriges bei dieser, Achtung Wortspiel, runden Angelegenheit.
Die Anhänger aus der Schleife des Wartens und des Bangens mit großem Götterrock zu erlösen, war ein gelungener Schachzug. Diese Emphase, dieser Sinn fürs Tragische und dieser mysteriöse Anspielungsreichtum strahlen und faszinieren auch weiterhin. Dass APC eine hypnotische Liveband sind, egal, in welcher Besetzung, dürfte inzwischen allgemein bekannt sein. A Perfect Circle sind zum damaligen Zeitpunkt, aber auch jetzt ein vor Musikalität berstender Haufen, dem man gern zuhört, wie er sich von der Metalband in eine Violinen/Artrock-Formation hin- und zurückverwandelt. Den Hang zu Anmut, Erhabenheit und Tiefe teilen sie sich brüder- wie schwesterlich. Keenan hat seinen Weltschmerz so eigen und leidenschaftlich in die Mauern von „Mer De Noms“ eingesungen, dass er auch nach zwanzig Jahren weiterhin berührt und fasziniert.
Tracklist:
01. The Hollow
02. Rose
03. Magdalena
04. Judith
05. Orestes
06. 3 Libras
07. Sleeping Beauty
08. Thomas
09. Renholdër
10. Thinking Of You
11. Breña
12. Over
Fotos: Universal Music