Wenn Lügen zu Feingefühl wird

„Die Dinge wären so viel einfacher, würde sich alle Welt die Wahrheit sagen“, vermutet Alice. „Das wäre ein richtiger Alptraum. Würde sich alle Welt die Wahrheit sagen, gäbe es auf der Welt kein einziges Paar mehr“, erwidert Paul. In „Die Lüge“ folgen Gespräche um Verheimlichen und Aufdecken, Ausreden und Geständnisse. Die Komödie setzt auf Dialoge, überraschende Wendungen und jede Menge Ironie.

Alice (Lisa Schrammel) und Paul (Felix Rank), seit Jahren verheiratet, haben das befreundete Paar Laurence (Nicola Trub) und Michel (Simon Jaritz) zum Abendessen eingeladen. Zwei gleichaltrige, kinderlose Paare, die in hohen Berufspositionen tätig sind und sich der intellektuellen Schicht zugehörig fühlen. Doch bevor Laurence und Michel eintreffen, möchte Alice das Treffen plötzlich absagen. Der Grund: Sie hat gesehen, wie Michel eine ihre unbekannte Frau geküsst hat. Nun ist Alice unsicher, wie sie sich verhalten soll: Ist sie als langjährige Freundin von Laurence moralisch dazu verpflichtet, ihr die Wahrheit zu sagen? Oder hat Paul Recht damit, dass Alice Laurence nur unnötig verletzen würde? Der Kuss müsse keine Bedeutung haben. Gerade als Paul anrufen und das Treffen absagen möchte, stehen Laurence und Michel auch schon vor der Tür.

„Die Lüge“ ist ein brillantes und ironisches Spiel um Lüge und Wahrheit, ein humorvolles Theaterstück mit Realitätsgehalt. Nach „Die Wahrheit“ stellt Florian Zeller (*1979) ein anderes Paar, Paul und Alice, in den Mittelpunkt. Die Gespräche über Lüge und Wahrheit nehmen ihren Lauf, sie bekommen philosophische und psychologische Aspekte. „Ich persönlich halte nichts für gefährlicher, als immer die Wahrheit sagen zu wollen. Im Leben, ja sogar in Liebesbeziehungen, muss man lernen, nicht alles zu sagen“, meint der Autor selbst zu seinem Stück.

Paul, Michel und später auch Alice sprechen lieber über die Wahrung von Geheimnissen und Feingefühl. Schließlich gehe es beim Lügen darum, soziale Beziehungen und Gefühle anderer zu schützen. Wie würde man sich in einer bestimmten Situation verhalten? Kann sich eine Situation verbessern, wenn bereits Gesagtes hinterher als Lüge bezeichnet wird? Sind unglaubwürdige Banalitäten eher wahr, da eine Lüge durchdachter wäre? Und berechtigt die Wahrheit dazu, dass andere diese ebenfalls sagen müssen? Fragen, die in „Die Lüge“ theoretischer gestellt werden, als sie für die beiden Paare tatsächlich sind.

Debattiert wird in Alices und Pauls Wohnung, dem einzigen Schauplatz in eineinhalb Stunden Aufführungsdauer und zwei Tagen erzählter Zeit. Im Wohnzimmer, das mit modernem Designtisch, Zierpolstern, Plattenspieler und hellen Farben die Eleganz des Paares wiederspiegelt (Fabian Lüdicke). Im Flur, der Besucher_innen beim Eintreten gleich mit einem großen Bild erwartet. Zeitgenössische Kunst, Vermittlung von Aufgeschlossenheit. Kurz wird auch die Küche zum Schauplatz, mit einem hellen Backrohr, dessen Piepsen Alice und Michel unterbricht, ihre Gedanken vielleicht verfliegen lässt. Die Geräusche haben filmischen Charakter (Daniel Feik). Sie sind Begleitung, wenn sich die Figuren ständig bewegen, um Lügen aufrecht zu erhalten. Eine Liebesballade aus der Popmusik unterstreicht den Kummer Pauls und bringt die Zusehenden zum Lachen, als er seine Hände langsam dazu bewegt und mitsingt. Abgerundet von einem weiteren Popsong, Abspann, filmische Atmosphäre bis zuletzt.

Heidelinde Leutgöb inszeniert „Die Lüge“ in österreichischer Erstaufführung nahe an der Beziehungsrealität und am Alltagsgeschehen, mit überraschenden Wendungen, die das Stück spannend machen und gekonnt mit ironischen Elementen wie überspitzten Bewegungen. Paul verschränkt trotzig die Arme, Alice sperrt sich im Schlafzimmer ein, um am nächsten Tag wieder Haltung zu bewahren. Die Emotionen ändern sich mit der jeweiligen Situation, manches wirkt adäquat zum Inhalt gekünstelt und dadurch besonders humorvoll. Dennoch ist das Dargestellte glaubwürdig, die Schauspieler_innen bleiben nach außen ruhig und bringen gleichzeitig ihre innere Unruhe auf die Bühne. In hochgeschlossenen, eleganten Kostümen wie einem Anzug, Abendkleid und Bleistiftrock (Astrid Lehner). Einzig Paul bildet eine Ausnahme, der mit seiner karierten Hose, dem schlichten Hemd, bunten Socken und Turnschuhen an einen Hipster erinnert. Dank der Wohnungsbeleuchtung hören die Zuseher_innen die Gespräche der Figuren nicht nur, sondern sehen auch ihre Treffen (Lichtgestaltung: Gerald Kurowski). Das Licht geht kurz aus im Saal, als Alice und Paul schlafen- sie im Bett, er auf dem Sofa.

Gelächter für die Szene, in der Paul versucht, Alice zu überzeugen, die Tür zu öffnen; ein lachendes Publikum im ausverkauften Saal von Anfang bis Ende des Stückes. Es sind vor allem Dialoge, die Schmunzeln hervorbringen, manchmal Bewegungen, die Emotionen unterstreichen. Spannung wird speziell dadurch erhalten, dass zum Teil offen gelassen wird, wer mit wem eine Affäre hatte und ob manches nur erfunden wurde, um den/die Partner_in aus Rache zu kränken. Eine Ahnung kommt auf, als eine Geschichte zwei Mal in ähnlicher Form erzählt wird. Aufgelöst wird über das nochmalige Spielen einer Szene, das vorher Nichtgesehene inklusive. Eine kreative Idee; Andeutungen, die im Anschluss klarer sind und doch schon vorher im Raum standen.

Auf das versöhnliche Ende mit bitterem Nachgeschmack folgen langer Applaus und Jubelrufe. „Die Lüge“ ist zugleich humorvoll und ernst, ironisch und überraschend. Ein Stück, das brillant in den Dialogen ist, gut inszeniert und gespielt. Die Komödie ist eine Ergänzung zu „Die Wahrheit“ und doch verständlich, ohne das Werk vor zwei Jahren gesehen zu haben.

Bild: Christian Herzenberger

„Die Lüge“ („Le Mensonge“) wurde im November 2015 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung aufgeführt. Das Stück ist bis 24. April im Theater Phönix zu sehen. Zu Tickets

Katharina ist Sozialwissenschaftlerin und Redakteurin. Sie beschäftigt sich vor allem mit gesellschaftlichen (z.B. frauenpolitischen) und kulturellen (z.B. Film, Theater, Literatur) Themen. Zum Ausgleich schreibt sie in ihrer Freizeit gerne literarische Texte: https://wortfetzereien.wordpress.com/