Bring me back to life: PLACEBO und „Never Let Me Go“
Wie findet eine offiziell zum Duo geschrumpfte Rockformation nach mehr als 20 Jahren, die sich selbst treu bleiben will, neue Wege?
Placebo zäumen das Pferd von hinten auf, legen vorweg die Namen der Songs fest, noch bevor die Musik steht und entscheiden sich für ein Artwork und einen Titel, obwohl noch nichts fertig ist. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Es ist immer so eine Sache mit den alten Helden aus der eigenen Jugend, die nach jahrelanger Pause ihre Rückkehr einläuten. Können sie es noch oder haben sie an Qualitäten eingebüßt? Fast eine Dekade nach dem letzten Longplayer „Loud Like Love“ ist es nun bei Placebo soweit. Die Erinnerungen an eine der führendsten britischen Rock-Bands war verblasst, die Sehnsucht nach der Bühne eingerostet. Im Falle von Brian Molko (Gesang, Gitarre) und Stefan Olsdal (Bass, Gitarre) ist die Sache aber gut ausgegangen. Sie haben ein gutes, ja durch die Bank überzeugendes Album produziert, welches eine Art Fortsetzung des Bekannten mit frischen Ansätzen darstellt. Die beiden Endvierziger haben die Zeit vergessen und tun so, als wäre „Never Let Me Go“, so der passende Titel, die Platte nach „Meds“ aus dem Jahr 2006. Erfreulicherweise ist also alles beim Alten.
Das Duo meistert die Wiederkehr ins Geschäft jedenfalls mit Bravour. „Never Let Me Go“ ist ein Album, welches mit jeder Note Lebenslust atmet, auch wenn die gesellschaftliche Atmosphäre gerade erdrückend ist und die Platte Misstrauen, Unmut und Misanthropie thematisiert. Der bombastische, größenwahnsinnige Ansatz von „Battel For The Sun“ spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie der Pop-Moment der letzten Veröffentlichung. Zweckdienlicher und zielgerichteter waren Placebo vielleicht noch nie. Das könnte daran liegen, weil die Band wieder zu einem Indielabel (So Recordings) gewechselt ist und zum ersten Mal ihren Arbeitsprozess umgestaltet hat. Wie anfangs beschrieben, einigte man sich zuerst auf Songnamen, Artwork sowie den Titel dieses Comebacks, bevor das eigentliche Material das Licht der Welt erblickte. Kreativ war das wohl äußerst beflügelnd.
WHERE ARE YOU NOW WHEN I NEED YOU THE MOST?
Die Lyrics atmen jede Menge Wut und Schmutz und verbalisieren ein Gefühl der Entfremdung. Desillusioniert und unzufrieden mit dem Zustand der Welt, zwischen Brexit, Covid-Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Konflikt, sind die Probleme in all der Zeit eben leider nicht weniger geworden. Molko formuliert das Anliegen der Platte dennoch unmissverständlich: „Bring me back to life, never let me go.“ Musik als Kunstform des Aufbegehrens, mit Leidenschaft und Verve vorgetragen.
Der Opener „Forever Chemicals“ dreht mit dem Thema der Gefühllosigkeit ziemlich schräg und abenteuerlich auf, bevor sich die melodischen Synthie-Flächen von „Beautiful James“ augenblicklich und schnurstracks ins Gedächtnis fräsen. Das punkige „Hugz“ tut sich schwer mit der Selbstakzeptanz und die andächtige, schwerelose Schönheit von „Happy Birthday In The Sky“ macht atemlos. Triumphierende, vom Orchester opulent begleitende Melodien in „The Prodigal“ sorgen für neue Facette, die ihnen ausgesprochen gut tut. Düster, aber stimmungsvoll nimmt uns das herrlich groovende „Surrounded By Spies“ auf eine mit Breakbeats gespickte Observation mit. Die paranoide Grundstimmung wird hier sowohl textlich als auch musikalisch toll umgesetzt. In „Try Better Next Time“ tut das Duo fast so, als würde es vor dem Weltuntergang noch einmal anmahnen, was denn alles schief gelaufen ist, was dem unbekümmerten Song eine tagesaktuelle, zynische Facette gibt.
A joke is just another way of telling the truth
Die zweite Hälfte mit treibenden Songs wie der Police-Hommage „Sad White Reggae“, „Twin Demons“ oder „Chemtrails“ reiht nahtlos ein homogenes wie mitreißendes Stück ans andere und entwickelt einen hypnotischen Sog. In seiner elegisch vor sich hin mäandernden Form gerät das melancholische „Went Missing“ zu einem Postrock-Highlight und der Abschluss in Form vom elektronisch untermauerten „Fix Yourself“ liest noch einmal allen Hatern auf Molko-Art sprichwörtlich die Leviten.
FAZIT
Die Briten legen nicht nur einmal den Finger in die schmerzende Wunden des gesellschaftlichen Lebens. Schmerz und Vergnügen, Freud und Leid, liegen bei diesen Dramen manchmal sehr nah beieinander. Fast schon unheimlich, wie selbstbewusst, reflektiert und unverkrampft die Band aus ihrer langen Auszeit zurückkehrt. Placebo bleiben damit eine autarke Quelle für dynamisch vorgetragene Gitarrenmusik. „Never Let Me Go“ ist ein mehr als vitales Lebenszeichen geworden. Der Erfolg gibt ihnen Recht, wie diverse Top-Chartplatzierungen in vielen europäischen Ländern belegen. Das Album ist glücklicherweise kein Abklatsch der innig beliebten Vorgänger wie „Black Market Music“ oder „Sleeping With Ghosts“ geworden, sondern bringt so viel Substanz mit sich, dass es daneben eigenständig bestehen kann.
TRACKLIST „Never Let Me Go“
01 Forever Chemicals
02 Beautiful James
03 Hugz
04 Happy Birthday In The Sky
05 The Prodigal
06 Surrounded By Spies
07 Try Better Next Time
08 Sad White Reggae
09 Twin Demons
10 Chemtrails
11 This Is What You Wanted
12 Went Missing
13 Fix Yourself