Sichtwechsel 2012 – „Du & Ich“

sicht:wechsel ist ein Festival von, mit  und für Beeinträchtigte und „Nicht-Beeinträchtigte“. Es werden verschiedene Darbietungen geboten   Theaterstücken, Filme und Workshops – alles zum Thema „Beeinträchtigung“. Der Untertitel: „Internationales Integratives Kulturfestival“ lässt einen anderen Blickwinkel auf die Thematik zu und lädt ein dieses Tabutthema genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Jeder ist gewissermaßen gehandycapt“- sei es geistig oder körperlich: Der Eine hat eine spastische Lähmung und ist geistig fit wie ein Turnschuh, ein Anderer trägt Brille und ist „sehbehindert“, wiederum Eine ist gehörlos und eine ganz Andere ist unter 1,70 cm groß.
Warum werden dann diejenigen aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt, bei denen es viel mehr offensichtlich ist, dass sie eine „schwere Beeinträchtigung“ haben und die anderen „normal Behinderten“ nicht?!

Viele Menschen in unserer Gesellschaft sehen einfach weg, wenn jemand im Rollstuhl sitzt oder grenzen Beeinträchtigte allgemein aus ihrem Umfeld aus. Obwohl sie dieselben Menschen, wie du und ich sind, können sich die meisten von uns kaum ein Leben gemeinsam mit Beeinträchtigte und „Nicht-Beeinträchtigte“ vorstellen. „Man kann ja nie ausgehen am Abend, der braucht ja immer 24h- Rund -um- die- Uhr –Betreuung, wer geht mit dem auf´s Klo oder füttert ihm sein Essen? Wie machen die das mit ihrer Sexualität, ihrer Zuneigung oder ihre Träume verwirklichen  haben die überhaupt Träume?!“. Fragen über Fragen, die gerne beantwortet werden können, wenn man sich nur mit einem Betroffenen oder einem Beeinträchtigten selbst unterhält.

Die österreichische Filmemacherin Ruth Rieser versucht mit ihrem Dokumentarfilm „Du und ich“ Aufklärungsarbeit zu leisten: Hiltraud und Franz, eine spastisch Gelähmte und ein „Nicht-Beeinträchtigter“ sind ein Paar, das in seiner Beziehung ebenfalls Ups and Downs erlebt. Bedingt durch Gelbsucht, als Hiltraud zur Welt kam,  sind ihre Gliedmaßen stark verkrampft und stark verformt. Dennoch hat sie Wünsche, Träume und Visionen, an die sie fest glaubt und auch realisiert. Dieser lebensbejahenden, lustigen Frau, steht ein Mann gegenüber, der eher der gemütlichen Sorte entsprungen ist. Als Pfleger von Hiltraud haben sich die beiden kennen und innig lieben gelernt.
Einen sehr großen Teil seines Lebensinhaltes widmet er seiner Liebsten, egal ob sie ihren Hobbys nachgeht wie Zeichnen, Malen und Songtexte schreiben oder ob er ihr bei alltäglichen Dingen wie beim Anziehen, WC-Gang oder  beim Zu-Bette-Gehen hilft.

Liebe überwindet Grenzen, baut Brücken und schafft Neues, ein neues Haus zum Beispiel. Ein großer Traum von „Hilli“ und Franz geht in Erfüllung, als sie nach dem Bau eines Eigenheimes auch noch den keltischen Bund zum Leben schließen und ihre Liebe für immer und ewig besiegelt ist. Oft braucht es nicht 1000 Worte, sondern es reichen einfache Blicke. Durch ihre Behinderung, kann sich Hiltraud schwer artikulieren, gut dass sie einen Mann hat, der ihr fast jeden Wunsch von den Lippen ablesen kann, der aber auch oft an seine persönliche Grenzen stößt. Einen sehnlichen Kinderwunsch zu erfüllen, ist für die Ärzte unserer Gesellschaft „untragbar“. Das ist auch der Grund, warum Hili´s Embyro nach 3 Monaten operativ, ohne ihre Einwilligung „entfernt“ und sie danach sterilisiert wurde.

Leider ist das oft bittere Realität.

Wie weit sind „Beeinträchtigte“ in der Lage für sich selbst zu sorgen oder gar eine Verantwortung für ein anderes Geschöpf zu übernehmen ? Haben diese überhaupt Rechte oder müssen sie sich ständig bevormunden lassen? Welche Möglichkeiten haben Beeinträchtigte in unserer Gesellschaft überhaupt zu überleben?

Fakt ist jedoch, dass gehandycapte Menschen immer weniger werden, die Lebenserwartung ist nicht sehr hoch bzw werden sie schon in der Schwangerschaft von den werdenden Eltern „umgebracht“. Diese Doppelbelastung: Sein ganzes Leben dem einen Kind zu widmen und die eigenen Bedürfnisse, Beziehungen und Wünsche in den Hintergrund zu stellen, bedarf Mut und Stärke.

Darum muss ich an dieser Stelle meinen Eltern ein großes Lob aussprechen, die mich trotzdem auf dieser schönen Welt haben wollten, obwohl ich eine Frühgeburt war und höchstwahrscheinlich schwerbehindert auf die Welt gekommen wäre.  DANKESCHÖN! Ich ziehe meinen wunderschönen Hut vor euch! Und auch vor allen anderen Eltern, die bereit sind, dies im Ernstfall auf sich zu nehmen.

Ruth Rieser bewies mit dieser sehr liebevollen und Detail beleuchtenden Dokumentation, das sehr wohl ein Zusammenleben zwischen Beeinträchtigten und Nicht-Beeinträchtigten möglich ist, wenn man sie nur annimmt so wie sie sind und in den Kreis holt, anstatt auszuschließen.

Der erste „Sichtwechsel“ hat bei mir mit diesem Film und mit Gesprächen mit einem Beeinträchtigten und einem Pfleger begonnen. Ich bin gespannt, in wie fern sich meine weitere Einstellung zu diesem Tabuthema noch beeinflussen wird bzw ändern wird.

Infos:
Das internationale integrative Kuturfestival sicht:wechsel finde noch bis 11. Mai in Linz statt. www.sicht-wechsel.at

Ich, ein Mädel aus Linzer Umgebung schreibe liebend gerne Konzert-Reviews, Filmkritiken und so manch anderes über Kultur, Leute und dem ganzen Drumherum. Wortspielereien mit Gefühlen, die echten Tatsachen und Stimmungen sind mein Metier, in dem ich mich am Wohlsten fühle. Kultur wie sie leibt & lebt im Linzer Raum und sonstwo, am Puls der Zeit, niemals vergessen, sondern dokumentiert, hier auf subtext.at Das ist meine Welt, ahoi!