Helmut List Halle bei der Diagonale
Foto: Diagonale/Martin Stelzl

Diagonale 2015 – Filmreife Psychosen

Im österreichischen Film haben psychische Auffälligkeiten offensichtlich einen Stammplatz. Stimmen, hören, Verfolgungswahn, Suizidgedanken und Persönlichkeitsstörungen – Sigmund hätte seine Freude. Doch gerade diese schwierigen Themen machen die Filme der diesjährigen Diagonale so großartige, die schauspielerischen Leistungen so herausragend.

So it has begun. Dienstag Abend wurde die 18. Ausgabe des Festivals des österreichischen Films in der Grazer Helmut-List-Halle eröffnet. Wie üblich hält Intendantin Barbara Pichler ihre Rede zur Lage der Film-Nation, auf eigenen Wunsch heuer zum letzten Mal.  Sie vergisst nicht, auf  Förderprobleme und den Kampf mit der Aufmerksamkeitsökonomie hinzuweisen, um in einer Hommage an Festivals und das Kino als Gesellschaftsort zu enden.

Der große Schauspielpreis der Diagonale wurde wie immer zu Beginn des Festivals vergeben. Diesmal konnte Tobias Moretti den Preis in Form eines Kunstwerks von Heimo Zobernig (ein Bild einer Vogelscheuche?!?) mit nach Hause nehmen. In der Laudatio der Jury wurde der Nebenerwerbsschauspieler und Agrarökonom für seine vielfältigen Rollen gelobt. Manchmal verschwindet er für 2 Jahre komplett von der Bildfläche, nur im dann in 1-2 Saisonen in unzähligen Kino-, TV- und Theaterproduktionen aufzutauchen. Ein kurzer Einspieler mit Ausschnitten aus den letzten Filmen sollte eigentlich seine Vielfältigkeit unterstreichen, mit der der Preis begründet war. Zu sehen war aber nur Moretti und unzähligen, teils skurilen Kostümen, er spielte aber immer sich selbst – den sturen Tiroler Bauernschädel. Eine Rolle, in der er sich selbst auch bei der Dankesrede wohl am besten gefällt. Wortgewaltig kritisiert er dabei die politisch korrekte Haltungslosigkeit der Gesellschaft.

Vor der Premiere seine Eröffnungsfilms „Superwelt“ nutzt Karl Markovics die Gelegenheit, um mal wieder den ORF zu geisseln. Auch wenn’s dieses Jahr nicht um Film sondern ums Radio (!!) ging. Konkret sprach er die Entscheidung des ORF an, alle Sender und Kanäle am Küniglberg in einem Newsroom zu konzentrieren und das Funkhaus in der Wiener Innenstadt aufzulösen. Der Applaus war ihm dafür sicher.

Zum Film selbst, der mit knapp 2 Stunden durchaus seinen Längen hat, kann ich nicht zu viele Worte verlieren. Außer: SEHENSWERT. Was ich vorab durch Bewerbung und Berichterstattung mitbekommen haben finde ich verrät fast schon zu viel, am liebsten hätte ich ihn absolut unbedarft gesehen. Die Wirkung wäre eine andere, noch bessere. Aber soviel sei verraten: Großartige Leistung von Hauptdarstellerin Ulrike Beimpold, unglaublich schöne Bilder und Charaktere, die fast am Kabarett vorbeischrammen, ohne aber ihre Ernsthaftigkeit zu verlieren. Also nichts drüber lesen, keinen Trailer ansehen, einfach ins Kino gehen!

 
HomeSick © Mojo Pictures / Christian Trieloff
HomeSick

Starke Frauen standen im Mittelpunkt meiner bisherigen Filmauswahl. Nicht unbedingt absichtlich, aber es hat sich herausgestellt, dass Männern in diesen Filmen eine eher unbedarfte Nebenrolle spielen und nicht viel brauchbares beizutragen haben. In HomeSick bringt Regisseur und Drehbuchautor Jakob M. Erwa ein psychisch dichtes Kammerstück auf die Leinwand, das auch auf einer Bühne funktionieren würde. Die neue gemeinsame Altbauwohnung in Berlin wird für ein junges Pärchen zum Zufluchts- und Schicksalsort. Denn die Cellistin Jessica fühlt sich verfolgt, gemobbt von der netten älteren Nachbarin. Während sich ihr Freund verständnisvoll fügt, aber nichts wahrnimmt, entwickelt die Beziehung zwischen der alten und der jungen Hausbewohnerin eine gefährliche Dynamik. Die Österreich-Premiere des jungen Grazer Regisseurs ist gelungen, der Film kommt hoffentlich auch bald regulär in die Kinos.

Ich seh Ich seh, der großartige Torture Porn von Veronika Franz und Severin Fiala, lief bereits erfolgreich in den österreichischen Kinos und ist im Jahresrückblick der Diagonale zu sehen. Ein Haus, viel Natur, eine Mutter und ihre Zwillingssöhne – mehr braucht es nicht, um vom luxuriösen Land-Idyll in eine Tour de Force zu kippen. Die Mutter, nach einer Gesichts-OP zur Unkenntlichkeit bandagiert, wird für ihre Söhne immer fremder. Wer ist die Frau hinter den weißen Bandagen, die sich nicht wie ihre Mama benimmt? Diese kindliche Neugier wird für die Mutter zur quälenden Herausforderung.

 
Bad Luck
Bad Luck

Bad Choices. Sowas kann einem natürlich auf jedem Festival passieren. Aber wenn der beste Film des Tages ein TV-Landkrimi des ORF ist, dann weiß man dass man was falsch gemacht hat. Das Kreuz des Südens ist ein gut gemachter Fernsehfilm, der das südliche Burgenland mal abseits der Tourismusidylle zeigt. Bis auf den klischeehaften Background des Hauptdarstellers (Kriminalkommissar, im Dienst verletzt, zwangsbeurlaubt, Familienprobleme) ist die Story spannen und unvorhersehbar. Im Dezember könnt ihr diesen Landkrimi dann im ORF sehen.

Bad Luck, passender könnte der Titel nicht sein. Planlos stolpern ein paar Charaktere durch die Kärntner Landschaft, sprechen in schlimmstem Dialekt, so dass die englischen Untertitel auch für mich notwendig werden und hadern dilettantisch mit ihrem Leben. Fesselnd war’s nicht, man merkte das sich das Premierenpublikum schon nach wenigen Minuten langweilte. Und die wenigen Lacher sind wohl auch eher dem schrulligen und steifen Schauspiel also den vorhersehbaren Slapstikeinlagen geschuldet.
Auch CENTAURUS hätte ich mir danach einfach sparen können. In epischen zwei Stunden stolpert Wolfgang Ruper Muhr (Regie, Drehbuch und Hauptdarsteller in einem) durch eine von Wahnvorstellungen und Irritationen gespickte Welt. Die Dialoge wirken hölzern, jede Handlung hat ein mögliche Doppeldeutigkeit bekommen. Die 34 Facebook-Fans hätten mir eine Warnung sein sollen!

 
Amour Fou © Stadtkino Filmverleih
Amour Fou

Französisch gehts heute zu am im KIZ Royal. Mit Jessica Hausners AMOUR FOU beginnt mein dritter Festivaltag mit ruhigen Bildern und langsamer Erzählweise. Durch die Kamera von Martin Gschlacht und das das authentische Szenenbild lebt Preußen im beginnende 19. Jahrhundert wieder auf, jede Einstellung wie ein Gemälde für sich. Weiter gehts mit dem beeindruckenden Dokumentarfilm HOMME LESS von Thomas Wirthensohn. Zwei Jahre begleitete er den Fotograf, Schauspieler, Dressman und „Lebenskünstler“ Mark Reay durch New York. Glamour und Partys, so sieht die eine Wirklichkeit des 52-jährigend mit dem verwegenen Charme aus. Doch in der Nacht schleicht er sich auf das Dach eines Apartmenhauses, wo er schläft. Denn schon seit Jahren ist Reay obdachlos. Um Geld zu sparen, das versucht er zumindest sich selbst einzureden. Dort oben, über den Dächern von New York, bekommt der American Dream Sprünge und lässt einen Blick hinter die Fassade zu.

Ma Folie, mein Wahnsinn, ist ein Beziehungsdrama von Andrina Mračnikar. Aus einer Liebesgeschichte, die in Paris beginnt, wir ein Psychothriller in Wien. Die anfängliche harmlose Eifersucht von Yann treibt Hanna immer mehr zur Verzweiflung. Seine verstörenden audiovisuelle Liebesbriefe, lettres filmées (ein eigenes Filmgenre in Frankreich) verfolgen sie bis in ihre Träume und lassen ihrer Realität verschwimmen.
In Paris gehts gleich weiter mit Eden, einer Langzeitstudie über die French House-Szene von Mia Hansen-Løve. Ab der Mitte der 90er begleiten wirden DJ Paul, dem immer knapp am großen Erfolg vorbeischrammt. Während die Freunde von Daft Punkt groß abräumen beginnt Paul an seinen Lebenseintscheidungen zu zweifeln. Ein zweistündiger Musikfilm, dessen Österreichpremieren von FM4 präsentiert wurde. Danach gabs eine Party im Kunsthaus, natürlich mit French House.

 
Risse im Beton © Fillmladen Filmverleih
Risse im Beton

Ab gehts in den österreichischen Abgrund schlechthin. Im Keller, der Konzept- und Dokumentarfilm von Ulrich Seidl war schon lange geplant, bevor die Fälle Kampusch und Fritzl den internationalen Blick auf die Welt unter den heimeligen Wohnstuben richteten. Ohne diesen Kontext wäre der Film ein fast liebevolles und skurriles Portrait, ein Blick in die österreichische Seele. Niemand wird vorgeführt, wie bei Seidl üblich präsentieren sich die ProtagonistInnen so, wie sie sind.

Mit „Risse im Beton„, seinem zweiten Langfilm, widmet sich Umut Dağ wieder dem Migrantenmilieu der Großstadt. Ehrlich, authentisch und mit viel Street-credibility ermöglichen die unzähligen Laiendarsteller einen Blick ihre Lebensrealität. Musik, Frauen, Drogen – die wichtigen Faktoren für den heranwachsenden Mikail, der es mit seinem Mixtape „einfach schaffen will“, und dabei immer näher an den Abgrund rutscht. Ertan hat seine Lektion bereits gelernt, er scheint gebrochen und versucht, dem 15-jährigen die Erfahrungen zu ersparen, die er selbst machen musste.

Den Abend meines letzten Festivaltages verbringe ich dann mit etwas gemütlicheren Filmen. Wobei „gemütlich“ ein dehnbarer Begriff ist. Wenn du wüsstest, wie schön es hier ist spielt nur oberflächlich auf die Idylle in den Kärntner Täler an. Ein weiterer ORF-Landkrimi, diesmal von Andreas Prochaska, steht auch ziemlich im Kontrast zum burgenländischen Pendant – auch wenn wieder ein paar Klischees nicht ausgelassen werden konnten. Statt der Preisverleihung im Orpheum bleib ich lieber im Kino, um endlich den vierten Brenner-Film von Wolfgang Murnberger zu sehen. Das ewige Leben setzt die nicht-chronologisch erzählte Geschichte der Romanfigur von Wolf Haas fort und beschäftigt sich diesmal mit Brenners Vergangenheit in Graz. Nachdem’s diesmal wieder eine Linz-Anspielung gibt erwarte ich, dass hoffentlich bald hier gedreht wird. „Das ist eine schwierige Frage“, sagt Murnberger dazu.

Mit den vergebenen Preisen bin ich heuer sehr zufrieden. „Ich seh ich seh“ gewinnt den Preis für den besten Spielfilm 2014/15, die Schauspielpreise gehen an Ulrike Beimpold für „SUPERWELT“ und an Murathan Muslsu für „Risse im Beton“. Eine Liste aller PreisträgerInnen gibts hier (PDF).

photographer, designer, journalist