Christina Stürmer: „Im tiefsten Inneren bin ich schüchtern“
Christina Stürmer hat als erste Frau im deutschsprachigen Raum ein MTV-Unplugged-Album aufgenommen. Im Interview mit subtext.at erzählt die 41-Jährige, dass sie eigentlich introvertiert ist, welcher ihrer Songs sie zum Weinen bringt und warum sie froh ist, noch immer nervös zu sein.
subtext.at: Die ersten Tourdates deiner MTV-unplugged-Tour sind vorbei. Wie fühlt es sich an, wieder zurück auf der Bühne zu sein?
Christina Stürmer: Sehr gut! Wir waren ja seit 2019 nicht mehr unterwegs und ich hatte so ein bisschen Bammel, weil ich es nicht mehr gewohnt bin. Ich bin auch 5 Jahre älter geworden. Die Kinder sind nicht dabei im Nightliner, der Oliver (Anm.: Christinas Lebensgefährte und Gitarrist ihrer Band) ist auch zu Hause. Aber das Touren macht wahnsinnig viel Spaß, mit der Truppe wieder unterwegs zu sein. Es brodelt und lodert die ganze Zeit, jeder ist motiviert und das Publikum auch. Es ist ein extrem musikalisches Publikum da.
subtext.at: Gab es ein Highlight bisher?
Christina Stürmer: Wien ist glaube ich nicht zu toppen. Das war so outstanding, wie laut die waren. Ich habe eine Videoaufnahme am Handy, wie sie Scherbenmeer mitgesungen haben, da kriege ich jedes Mal Gänsehaut wenn ich mir das anhör‘. Jeder sagt immer, das ist das Heimspiel, „a gmade Wiesn“ – ich finde das überhaupt nicht. Wien ist immer am schwierigsten für mich, ich bin in Wien immer am nervösesten. Das letzte Mal habe ich vor dem auf die Bühne gehen noch damit gekämpft, mich nicht zu übergeben. Vielleicht, weil eben so viele Bekannte da sind. Mir ist lieber, ich kenne kaum wen persönlich im Publikum (lacht). Deshalb umso schöner, dass es so ein Zuhause-Gefühl war.
subtext.at: Wenn du dann auf der Bühne stehst – oder sitzt – und diese Songs singst, wo bist du gedanklich? Gerade bei dieser besonderen Tour, wo dein ganzes Lebenswerk verarbeitet ist: bist du im Saal, in dem Moment, wo du gerade spielst oder hast du eher einen inneren Film im Kopf?
Christina Stürmer: Diese Frage habe ich noch nie gestellt bekommen, und ich finde, das ist wohl eine der interessantesten Fragen, die es gibt. Es ist unterschiedlich. Bei manchen Songs ist es mir total wichtig, dass ich in der Geschichte drinnen bin, damit ich den Text nicht vergesse – beim neuen Song Ein halbes Leben zum Beispiel, erzähle ich meine Geschichte seit Starmania. Aber zum Beispiel bei Mama, wenn ich da zu sehr drinnen bin, dann denke ich an etwas Skurriles, damit es mich emotional nicht zu sehr da reinzieht. Sonst würde ich selber Rotz und Wasser heulen. Vorgestern zum Beispiel, das darf man eigentlich niemanden sagen, war ich gegen Ende schon wieder so emotional, dass ich nur gedacht habe „Spiegelei, Spiegelei, Spiegelei“ (lacht). Nur an das Spiegelei im Catering gedacht.
Wenn es aber eine Nummer ist, die wir schon sehr oft gespielt haben, driftet dann mein Hirn komplett irgendwohin. In Salzburg am zweiten Konzert habe ich während Ich lebe an die Gästeliste in Wien gedacht, wer da aller kommt. Solche Sachen sind immer ein Fehler. Da war dann die Bandvorstellung und mir ist der Name von Maria, unserer Klavierspielerin, nicht eingefallen. Dieses Multitasking. Früher konnte ich während dem Konzert Plakate lesen, wenn ich das heute mache, ist der Text weg.
subtext.at: Das sind diese Sachen, über die man sich im ersten Moment ärgert und im Nachhinein darüber lacht. Ich finde, du hast wahnsinnig sicher gewirkt, deswegen überrascht es mich, wenn du von Lampenfieber redest. Glaubst du, es muss so sein?
Christina Stürmer: Das gehört dazu. Wenn ich irgendwann so auf die Bühne gehe wie ich ins Wohnzimmer gehe und mich vor den Fernseher setze, ist es nicht mehr das Richtige für mich. Bevor ich auf die Bühne gehe, ist mir immer so leicht mulmig und schlecht, aber sobald ich raufgehe, ist es weg, das ist ja das Arge. Es ist so ein Safeplace. Ich fühle mich einfach sicher, da kann man mir nichts anhaben und ich muss mich nicht verstellen. Ich labere im Moment einfach drauf los und die Leute finden das super (lacht).
subtext.at: Und das obwohl du sagst, dass du früher sehr schüchtern warst. Ist das eine Begleiterscheinung deiner Berufswahl, weil man als Person in der Öffentlichkeit extrovertiert sein muss?
Christina Stürmer: Ich bin auch heute noch nicht die, die in den Raum geht und mega extrovertiert und präsent ist. Ich schaue mir das immer lieber aus der Ferne an. Also gerne dann schnell Deep Talk, aber dieses oberflächliche Smalltalk-Ding ist so gar nicht meins. Da gehe ich lieber ein Buch lesen (lacht). Ich bin auf alle Fälle von unserer Familie die Extrovertierteste und das mit hundertprozentiger Sicherheit durch den Beruf. Ich bin aber sehr dankbar dafür, es macht das Leben schon schöner, wenn man offen gegenüber anderen Menschen ist. Aber im tiefsten Inneren, wenn du mich irgendwo privat triffst, triffst du auf meine schüchterne Seite.
Ich muss mich bei den Konzerten so zusammenreißen, weil es mit Sicherheit gerade jemandem genauso geht. Es trifft immer die Unschuldigen.
Christina Stürmer über ihren Song Mama (ana ahabak)
Lieder über Krieg: Leider Zeitlos
subtext.at: Du hast es gerade schon angesprochen: Einer der bewegendsten Momente der Show war, als du Mama (ana ahabak) gesungen hast, das damals während des Irakkrieges entstanden ist. Was macht das mit dir, wenn du heute dieses 20 Jahre alte Lied singst?
Christina Stürmer: Ich habe letztens mit meiner großen Tochter darüber geredet, weil sie das Lied immer so traurig macht. Sie wollte wissen, worum es da geht und ich habe es ihr erzählt, natürlich kindgerecht. Sie war seitdem bei zwei Konzerten dabei und ihr treibt es immer die Tränen in die Augen. Sie ist sieben. Und dadurch, dass das mit ihr so viel macht, fährt es bei mir nochmal extra ein. Ich muss mich bei den Konzerten immer so zusammenreißen, weil es eben nicht nur eine Geschichte ist, sondern mit Sicherheit irgendwo auf der Welt gerade jemandem genauso geht. Es trifft immer die Unschuldigen.
Mich macht das dann immer so grantig, wenn man auf Menschen trifft, die sich darüber aufregen, dass Migranten uns die Jobs wegnehmen würden und wie das sein kann, dass die ein Smartphone und Markenschuhe haben und eine teure Sonnenbrille. Wenn bei uns jetzt Krieg ausbrechen würde, ich würde auch mein Telefon mitnehmen.
subtext.at: Du hältst mit deiner politischen Meinung nicht hinter dem Vorhang, aber so ganz konkret äußerst du dich auch nicht. Es gibt ja immer wieder diese Debatten jetzt um die US-Wahlen und was Künstler:innen mit ihren Plattformen bewegen und verändern können. Wir haben auch ein Wahljahr in Österreich. Du hast z.B. 320.000 Follower bei Facebook. Fühlst du dich nicht verantwortlich, manche Sachen noch lauter auszusprechen?
Christina Stürmer: Ich finde es für mich nicht richtig, jemandem zu sagen, was er wählen soll. Ich habe für mich den Weg gefunden, dass ich eben in Form von Mama oder Seite an Seite, darüber rede. Und dann kann man sich eh schon denken, was ich auf alle Fälle nicht wähle. Das ist für mich der richtigere Weg, dass man eher so ein Gefühl vermittelt. Einander helfen ist wichtig, Zusammenhalt ist wichtig und die Flüchtlinge sind nicht die Schuldigen, denen geht es scheiße. Deshalb ist mir gerade wichtig, dass ich während der Unplugged-Tour immer vor Seite an Seite sage, dass der Hintergrund dieser Nummer die Flüchtlingsbewegungen waren.
Keine Frau je zuvor: „Jetzt erst recht“
subtext.at: Die letzte Tour, die du gemacht hast, war 2019. Ich glaube, man kann sagen, die Welt war eine andere damals. Was hat dich geformt in diesen letzten 5 Jahren?
Christina Stürmer: Also was das Livespielen anbelangt, bin ich wesentlich dankbarer geworden, natürlich durch Corona. Man spürt schon, dass die Ticketverkäufe sehr zugegangen sind, Wien war jetzt die Ausnahme. In Deutschland ist alles ausverkauft, aber wir spielen auch in kleineren Locations als früher. Auch wenn vor ein paar Jahren mehr Leute gekommen sind, bin ich dankbar, dass wir das trotzdem noch machen dürfen.
subtext.at: Du bist die erste Person im deutschsprachigen Raum mit einem MTV Unplugged-Album, die kein Mann ist. Was macht der Gedanke mit dir, jetzt als erste Frau damit an den Start zu gehen?
Christina Stürmer: Ich habe gemischte Gefühle. Einerseits freue ich mich, andererseits frage ich mich, wie das sein kann. 2023 ist reichlich spät. Als ich das beim ersten Gespräch mit MTV erfahren habe, hat es mich schockiert. Dann dachte ich mir, jetzt erst recht, das kann es ja nicht sein. Es gibt so viele großartige Frauen, für mich war gleich auch klar, dass ich einige Frauen einladen möchte. Mathea hat gleich ja gesagt und die Uschi (Anm.: Schauspielerin Ursula Strauss) auch.
subtext.at: Du hast ja 2010 schon die Bundeshymne gegendert. Bist du Feministin?
Christina Stürmer: Ja. Also ich würde mich jetzt nicht als extreme Feministin bezeichnen, aber schon. Ich bin so hin- und hergerissen, manche Sachen finde ich zu extrem. Ich finde nicht richtig, dass man eine Frau wo hinsetzt, nur weil sie eine Frau ist. Es gibt echt coole weibliche Bands und Künstlerinnen, die ihren Platz verdient haben. Aber mir kommt das immer so ein bisschen verwaschen vor, dass man sagt, es gehören mehr Frauen auf die Festivalbühnen. Ja eh, aber ich will jetzt nicht den Job kriegen, nur weil ich eine Frau bin, sondern weil ich es kann. Und dann bin ich halt auch eine Frau.
subtext.at: Klar, niemand will die Quotenfrau sein. Es gibt so viele weibliche Künstler:innen, die diese Festival-Headlinerplätze verdienen würden, aber das System ist männerdominiert und festgefahren. Hast du das Gefühl, es verändert sich etwas im Bezug auf wie mit Frauen in der Musikindustrie medial umgangen?
Christina Stürmer: Es ist schwierig. Ich selber habe eigentlich selten ein Problem gehabt. Was bei mir natürlich ist, sind die Fragen mit den Kindern daheim. Ich weiß nicht, ob die Männer die auch alle kriegen. Aber auch das habe ich mir ärger vorgestellt. Am Anfang der Promoreise hatte ich ein Interview, wo es als so arg empfunden wurde, dass der Mann daheimbleibt und jetzt zurückstecken muss, weil die Frau Karriere macht. Und ich dachte mir, was ist mit dem? Aber das war eben nur das eine mal.
„Ich mag den Kontrast“
subtext.at: Zur Vorbereitung auf das Unplugged-Album habt ihr euch in einem Haus eingemietet und euch der intensiven Stürmerdiskografie-Beschallung unterzogen. Gab es einen Moment, der dir beim Durchhören der alten Sachen besonders in Erinnerung geblieben?
Christina Stürmer: Es war sehr vieles sehr lustig. Wir haben ein paar Songs gehört, wo wir gesagt haben, scheiße, den haben wir ja auch gemacht?! Zwei Nummern habe ich richtig abgefeiert, so „Hau-drauf-Nummern“, aber das waren beides Album-Tracks. Die feiern wir als Band total, aber wir hatten das Gefühl, das Publikum will wahrscheinlich eher andere hören.
subtext.at: Stichwort „Hau-drauf-Nummer“ – bist du im Herzen schon noch eine Rockerin geblieben?
Christina Stürmer: Irgendwie beides. Ich höre schon gerne ruhige Musik. Zum Beispiel Gregory Alan Isakov, auch wenn der nicht sonderlich bekannt ist. Den höre ich fast täglich, weil er mich so runterbringt. Eine Zeit lang habe ich auch ganz, ganz viel System Of A Down gehört. Ich mag den Kontrast einfach gerne. Irgendwann war ich so grantig, weil ich wegen einer Promoreise einen Urlaub absagen musste, dann habe ich Slipknot aufgedreht und habe daheim die Küche geputzt (lacht).
Bei uns zu Hause läuft sehr viel unterschiedliche Musik, auch ganz viel Mac Miller. Mit dem neuen Hip-Hop zum Beispiel kann ich nichts anfangen, mit alten Hip-Hop aber schon. Der Oliver, mein Freund, mischt und produziert viel. Also alles, was Rick Rubin produziert oder Andrew Scheps mischt, wird sowieso einmal angehört, auch wenn wir die Band nicht kennen. Weil man da davon ausgehen kann, die greifen nichts an, was nicht geil ist.
subtext.at: Und dann seid ihr mit euren eigenen Songs in den Proberaum gegangen. Wie habt ihr es geschafft, Songs neu aufzurollen, die schon Ewigkeiten Teil der Setlist sind?
Christina Stürmer: Wir haben versucht, dass wir dieses Schwere, Rockige rauskriegen, damit alles mehr Leichtigkeit bekommt. Wir waren uns alle einig, dass Ich lebe eher am Original bleiben sollen. Bei Nie genug, das jetzt vom Ursprungsgewand sehr ähnlich ist, haben wir mehr ausprobiert. Ich hör auf mein Herz zum Beispiel geht im Original auch nach vorne und hat jetzt aber eine ganz andere Kraft. So ein bisschen Richtung The Police. Tobi Kuhn, unser musikalischer Leiter, ist ein kreatives Genie. Er meinte, spielt einfach mal einen anderen Schlagzeuggroove, und das hat für mich schon so viel ausgemacht.
subtext.at: Bei der ersten Show war Wolfgang Ambros mit dir auf der Bühne und ihr habt einen Song von ihm gesungen. Wo siehst du dich in dem Alter, mit 72? Immer noch auf der Bühne?
Christina Stürmer: Gerne, ja. Also, wenn es mir noch immer so viel Spaß macht wie jetzt und ich noch immer diese Nervosität kurz vorher habe, würde ich gerne noch auf der Bühne stehen.
subtext.at: Jetzt haben wir viel über Musik geredet. Du bist ja eigentlich gelernte Buchhändlerin. Hast du Lektüre mit auf Tour und eine Empfehlung für unsere Leser:innen?
Christina Stürmer: Ja, ich habe vier Bücher mit auf Tour und einen Kindle. Im Moment lese ich gerade ein Buch, das heißt Good Inside (Anm. von Becky Kennedy). Darin geht es darum, wie man mit Kindern umgeht, wie man mit Menschen umgeht. So prinzipiell, dass der Mensch an sich gut ist. Jetzt in München hab ich ein Buch geschenkt gekriegt, das werde ich bald lesen: MTViva – geschrieben von Markus Kafka und Elmar Giglinger. Und den TC Boyle habe ich auch mit.
subtext.at: Wann kommst du denn da zum Lesen?
Christina Stürmer: Du wirst lachen, aber ich gehe von der Bühne runter um 23 Uhr, gehe duschen, mich abschminken und mache mein Social-Media-Zeug. Um 1 Uhr fährt der Bus ab, da trinke ich mein Feierabendbier und esse. Und ich lese dann immer noch vor dem Einschlafen, egal ob es 2 oder 3 Uhr nachts ist.
Christina Stürmer – MTV Unplugged Tour
20.06.2024 – Dornbirn, Conrad Sohm
21.06.2024 – Telfs, Kuppelarena
29.08.2024 – Braunschweig, Applaus Garten
15.10.2024 – Würzburg, Posthalle
16.10.2024 – Odelnburg, Kulturetage
17.10.2024 – Wilhelmshaven, Pumpwerk
18.10.2024 – Frankfurt, Zoom
20.10.2024 – Saarbrücken, Garage
21.10.2024 – Dortmund, FZW
22.10.2024 – Dresden, Tante Ju