Ein Plädoyer für sexuelle Freiheit

„Mädchen und Frauen sollen wollen und begehren und beanspruchen – aber sie sollen dabei bitte nicht anstrengend werden: ein unauflösbarer Widerspruch“, schreibt Journalistin Margarete Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“. Sexualmoral führt dabei zur zentralen, titelgebenden These: Wer obenrum nicht frei sei, könne es auch untenrum nicht sein.

Das „Obenrum“ (z.B. Normen) zu erkennen, ist laut Stokowski aber keineswegs einfach. „Haben wir die Fesseln der Unterdrückung längst gesprengt, oder haben wir nur gelernt, in ihnen shoppen zu gehen?“, ist bereits auf dem Bucheinband zu lesen. „Untenrum frei“ hinterfragt, dass Frauen* in westlichen Gesellschaften Männern* komplett gleichgestellt seien und geht in diesem Zusammenhang auch der Frage nach, inwieweit Frauen* heute tatsächlich frei seien. Zum Einen stellen ihre Mitmenschen speziell an sie ambivalente Forderungen wie „Sei sexuell attraktiv- aber pass auf, dass du nicht wirkst, als wärst du leicht zu haben“, zum Anderen würden Frauen* in der Werbung etc. überhaupt mit Sex gleichgesetzt werden. „Eine Gesellschaft, die die nackten Körper oder Körperteile von Frauen nicht mehr trennen kann von Sex oder Erotik oder der eigenen Sexualität, hat ein Problem mit ihrem Frauenbild und nicht nur mit dem“, bringt die Autorin ihre Ansicht auf den Punkt.

Dabei werde das Frauenbild, das Stokowski kritisiert, schon Kleinkindern vermittelt. „Nicht als Prinzessin geboren“ heißt das erste von sieben Kapiteln, das nach einem Überblick gebenden Vorwort anschließt. Margarete Stokowski beginnt autobiografisch damit, dass sie sich als Vierjährige an ihrer Vulva verletzt habe und Scham hatte, darüber zu sprechen. Fortgeführt wird mit Zitaten von Simone de Beauvoir („Das andere Geschlecht“) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, bevor Stokowski schlussfolgert, dass Männer* im Gegensatz zu Frauen* eher über ihre Geschlechtsorgane sprechen würden.

Dass  Sexualität einschließlich sexueller Orientierungen eines der Hauptthemen in „Untenrum frei“ ist bedeutet jedoch nicht, dass Stokowski unsere Gesellschaft für übersexualisiert hält. „Wir sind nicht umgeben von Sex, sondern von einem diffusen Versprechen von Sex“, heißt es im Kapitel „Wachsen und Waxen“. Feministische Gesellschaftskritik findet sich zu sexueller Freiheit und Selbstbestimmung, sexueller Gewalt, Sexualpolitik, Sexualunterricht, aber auch zu Führungspositionen, Lohngerechtigkeit, Männer*-und Frauen*zeitschriften oder Ratgeberliteratur. Stokowski ist zwar nicht die erste, die sich mit bedenklichen Aussagen wie „Sie haben jederzeit die Freiheit, nein zum Sex zu sagen, aber bedenken Sie dabei auch, dass es zur Liebe gehört, füreinander da zu sein“ beschäftigt, aber eine Feministin, die zugleich das mitschwingende Männerbild hinterfragt und Studien heranzieht, wie Testpersonen Sätze aus Männer*magazinen einstufen. Das alles passiert ohne moralischen Zeigefinger, ohne einfache, plakative Lösungen und mit Humor. Stokowski betont etwa, dass es ihr nicht darum gehe, Männer*- und Frauen*zeitschriften zu verbieten. Ihr sei es stattdessen lieber, wenn diese gar nicht erst gekauft werden würden.

„Untenrum  frei“ ist also keine Aneinanderreihung von Handlungsempfehlungen – diese werden bis auf Ideen, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten könne, um andere beispielsweise höflich auf Sexismus aufmerksam zu machen, ausgespart- , sondern vielmehr eine Diskussionsgrundlage. Über sexuelle Freiheit, Feminismus per se oder darüber, dass dieser alle Geschlechter einschließe. „Nennt es doch Humanismus“, schlägt Stokowski vor  und meint damit dieselben Rechte und Freiheiten für alle Menschen. Aber „Feminismus bedeutet nicht, dass ich meinen Körper lieben und schön finden muss und guten Sex haben muss. Feminismus bedeutet, dass ich mir die Zeit sparen kann zu überlegen, ob ich mit meinem Körper rausgehen kann und ob er schön genug für die anderen ist“, schreibt die Autorin an anderer Stelle.

Wie hier entkräftet Stokowski positive (z.B. dass Feminist_innen besseren Sex hätten als Nicht-Feminist_innen) und negative (an anderer Stelle z.B. dass Feminist_innen prüde seien) Vorurteile-  in einer Alltagssprache, die vereinzelt um geläufige Jugendausdrücke wie „liken“ und um wenige erklärte Fachausdrücke aus den Sozialwissenschaften wie „marginalisiert“ und „hegemonial“ ergänzt wird. Bildhafte Vergleiche treffen gleichermaßen auf konkrete Sprache wie Humor auf Beklemmung. Stokowski erzählt beispielsweise einige Seiten lang über ihre Selbstverletzungen als Jugendliche und spart dabei weder die Beschreibung der Narben noch die des Blutflusses aus.

„Untenrum frei“ hat insofern Ansätze eines Coming-of-Age-Buches, ist aber mehr als das. Der freien Autorin (für taz, Zeit,…), die seit mehr als einem Jahr die Kolumne „Oben und unten“ bei „Spiegel online“ schreibt, ist ein Plädoyer für sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung gelungen, das eine breite Leser_innenschaft anspricht. Dazu tragen neben der Alltagssprache die Palette an Themen und vor allem die Kombination aus persönlichen Erfahrungsberichten, sozialwissenschaftlichen Studien und Zitaten von Wissenschaftler_innen, Politiker_innen oder Autor_innen bei. Dass Stokowski ihre paar Seiten zu geschlechtergerechter Sprache komplett weglassen oder Begriffe wie Pansexualität und Asexualität noch erläutern hätte können, ist Geschmackssache.

„Untenrum  frei“ ist 2016 im Rowohlt Verlag erschienen und um 20,60 € zu erstehen.

Katharina ist Sozialwissenschaftlerin und Redakteurin. Sie beschäftigt sich vor allem mit gesellschaftlichen (z.B. frauenpolitischen) und kulturellen (z.B. Film, Theater, Literatur) Themen. Zum Ausgleich schreibt sie in ihrer Freizeit gerne literarische Texte: https://wortfetzereien.wordpress.com/