Untergang des Abendlandes in der Donaustadt: Mariano Pensottis DIAMANTE

Die diesjährige Ausgabe der Wiener Festwochen unter Neuintendant Christophe Slagmuylder ist zu Ende. Der Einstand des Belgiers kann, wenn auch nicht ganz so risikofreudig wie Vorgänger Tomas Zierhofer-Kin, als gelungen bezeichnet werden. Eine Produktion, auf die wir im Besonderen zurückblicken möchten, ist Mariano Pensottis Theaterstück „Diamante“.

© Wiener Festwochen

In der Idylle von Diamante, einer blitzblanken Industrie-Kolonie in einem zeitentrückten Argentinien, scheint der begrenzte Horizont der Bürger zur Gänze selbstgewählt zu sein. Dieses Zuhause, gegründet von einem deutschen Konzern vor 100 Jahren, ist mit all seinen Privilegien und besseren Lebendsbedingungen der Nabel der Welt und dessen Schau zelebrieren die Einheimischen täglich zur allgemeinen Zufriedenheit. Anfangs leben die Bewohner sorglos und der Frohsinn wirkt fast wie einprogrammiert und einstudiert, doch lassen sich die in Armut lebenden Bewohner außerhalb der abgeschotteten Umgebung vollkommen ausblenden? Ist Diamante andererseits die imaginisierte Endstufe einer gesellschaftlichen Entwicklung?

Und so siedelt Pensotti dieses besondere Planspiel in Wien in der Donaustadt (Erste Bank Arena) an, welches zwar Diamante in Argentinien heißt, aber damit alles quasi irgendwie meint: Imperialismus, Globalisierung und die umfassenden Ökonomisierung des Lebens. Wir sind nicht glücklich damit, wie wir sind und wer wir sind, sondern unglücklich darüber, nicht so zu sein, wie wir sein sollten. Der 46-Jährige aus Buenos Aires ist ein fähiger Regisseur darin, Handlungsstränge und Personen zu verknüpfen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben und die Verbindung, im Gegensatz zum Besucher, selbst oft gar nicht wahrnehmen. Das Publikum ist dabei der einzige Akteur des Abends, der nicht spielt, sondern ist.

Die Kulisse besteht aus Wohnhäusern, die von außen einsehbar sind, eine Bar, einer Überwachungsstation, einem Hauptplatz und einem abgelegenen Parkplatz mit Auto, der als Liebesnest dient. Von Szene zu Szene, von Häuslein zu Häuslein, bewegt sich das Publikum in selbstausgesuchter Reihenfolge, um in jeweils achtminütigen Szenen näheres von den Figuren und der Geschichte von Diamante zu erfahren. Ist es zu Ende, heißt es weiter zur nächsten Vorstellung, zur nächsten Szene, die genau acht Mal wiederholt wird. Die Fragmente setzen sich zusammen. Das Ensemble, bestehend aus Deutschen und Argentiniern, erzählt von anstehende Wahlen, Einbrüchen, Ehebrüchen bis hin zur Sektenbildung. Allianzen werden gegründet und Freundschaften ruiniert. Arbeitslosigkeit, die Angst vor der Zukunft und welche Rolle der Glaube in der Wissensgesellschaft einnimmt, spielen ebenso wichtige Rollen innerhalb der Handlung. Die Grupo Marea, mit der Pensotti hier zusammenarbeitet, zeigt getauschte, halbierte und verdoppelte Leben, die durch Übertitel näher an uns herangetragen werden.

Pensotti verspricht dabei keine einfachen Antworten, sondern wirft Fragen auf wie jene, ob ein Einzelner im Jahr 2019 gegen die gesellschaftlichen Verwerfungen etwas ausrichten kann und schafft aus unterschiedlichen Erzählsträngen ein immer engmaschiger werdendes Spannungsnetz, während wir die Stadtbewohner und ihr Leben in bester Truman-Show beobachten. In Zeiten der Digitalära ist dieses tolle, fünfeinhalbstündige Theaterstück Selbsterfahrung und Selbstexperiment zugleich.

© Wiener Festwochen

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