CPH:DOX 2023: Sexarbeit, LSD und der Sturm auf das US-Kapitol
Regen, Kopenhagen und Dokus ohne Ende. Das klingt nicht nur nach einer guten Kombi, sie ist es auch. 200 neue Dokumentarfilme, darunter 100 Weltpremieren, begeisterten das Publikum beim CPH:DOX, einem der größten Dokumentarfilmfestivals der Welt. Ein Streifzug durch die aktuelle, internationale Doku-Landschaft.
Prostitution, halluzinogene Drogen und Trumpismus haben auf den ersten Blick nur wenig (oder vielleicht auch erschreckend viel) miteinander zu tun. Alle drei sind allerdings Themen, die in den besten Dokumentarfilmen der Welt unter anderem behandelt werden und Ende März beim CPH:DOX in der dänischen Hauptstadt zu sehen waren. Von der Sexarbeit schwarzer Transfrauen über psychiatrische Experimente mit LSD im Dänemark der 1960er Jahre bis hin zum Sturm auf das US-Kapitol 2021 aus republikanischer Insider-Sicht – an Themenvielfalt mangelte es nicht.
THE INSANE EXPERIMENT
Zwischen 1960 und 1973 werden in Dänemark hunderte psychiatrische Patient:innen mit LSD behandelt, das zu Beginn noch als Wunderheilmittel gilt. 13 Jahre später machen das Halluzinogen und seine Folgen abermals Schlagzeilen: Zahlreiche Patient:innen sagen, dass im Frederiksberg Hospital in Kopenhagen Experimente mit LSD an ihnen durchgeführt worden sind – ohne zu wissen, was ihnen genau verabreicht wird und welche Folgen es hat. Für viele der großteils depressiven Patient:innen sind die Versuche mit LSD katastrophal. Viele wollen die Behandlung abbrechen, es gibt Selbstmordversuche, Suizide und sogar einen Mord.
In der öffentlichen Dokumentation verschweigen die Ärzt:innen nicht nur, dass es mehr Selbstmord(versuche) gab als angegeben, sondern auch ihr Wissen darüber, dass die Therapie mit LSD für bereits suizidale Patient:innen mehr als gefährlich ist und Selbstmord eine Nebenwirkung sein kann. Sie werden angeklagt, aber freigesprochen.
60 Jahre später erhält die investigative Journalistin Lotte Mathilde Nielsen nach dem Tod einer der federführenden Ärztinnen Zugang zu deren persönlichen Akten. Diese offenbaren, dass die behandelnden Ärzt:innen mehr gewusst haben mussten als sie im Gerichtsprozess angegeben haben – der wohl größte Medizinskandal Dänemarks erhält eine neue Wendung.
Die Journalistin Nielsen führt in dieser dramatisierten Dokumentation selbst Regie. Schauspieler Thure Lindhardt lässt seine Expertise in den historisch nachgestellten Szenen einfließen. Zu dokumentarische Zwecken kommen sowohl betroffene Patient:innen als auch die Tochter der Ärztin zu Wort. Das Ergebnis ist eine Doku-Reihe über die elementare Bedeutung von Ethik in der Medizin, deren ersten beiden Folgen beim CPH:DOX zu sehen waren. Fortsetzung folgt im dänischen Fernsehen.
The Insane Experiment
Dokumentation
DK 2023, 80 min, OmeU
Regie: Lotte Mathilde Nielsen, Thure Lindhardt
KOKOMO CITY
In „Kokomo City“ porträtiert die Musikproduzentin D. Smith das Leben von vier schwarzen Transfrauen, die in Atlanta und New York ihr Geld mit Sexarbeit verdienen. Sie zeigt ihre Lebensrealitäten zwischen Todesangst und Dominanz. In kurzweiligen 73 Minuten erzählen Daniella, Koko, Liyah und Dominique aus ihrem Alltag – was sie bewegt, berührt, aufregt oder nicht weniger kümmern könnte. Wir hören von Transitionen, familiären Hintergründen, Klienten und ihrem Verhältnis zu (schwarzen) cis Frauen.
Kokomo City ist einer der visuell einzigartigsten Dokumentation, die ich je gesehen habe. Kinematographisch unglaublich gut gemacht, in Schwarz-Weiß gehalten, bestechende Filmmusik, spannende Close-ups und Frames sowie überraschende Animationen – all das ergibt einen Film, der einfach unheimlich Spaß beim Zusehen macht und ob der Thematik auch eine große Relevanz mit sich bringt. Auch wenn es manchmal etwas schwierig ist, ob des Slangs und der fehlenden Untertitel zu folgen. Nicht umsonst war der Film eine Sensation beim diesjährigen Sundance Film Festival und Publikumsliebling bei der Berlinale.
KOKOMO CITY
Dokumentation
US 2023, 73 min, OV
Regie: D. Smith
A STORM FORETOLD
„Fuck the voting – let’s get right to the violence“. Dieses Zitat stammt nicht etwa von den gewaltbereiten Trump-Anhängern, die am 6. April 2021 das US-Kapitol gestürmt haben, sondern von Roger Stone. Der Politik-Berater, Lobbyist und enger Trump-Vertrauter gilt als einer, der in der republikanischen Partei die Fäden zieht. Und als einer der Hauptinitiatoren der Aufstände rund um die Amtsübergabe Trumps. Er erfand mit „Stop the Steal“ den Claim jener Kampagne, die schon lange vor dem tatsächlichen Wahlergebnis Misstrauen an dessen Richtigkeit unter den Trump-Fans schürte und schlussendlich nach Trumps Niederlage in gewalttätigen, antidemokratischen Randalen mündete – von der Republikanischen Führungsriege mutmaßlich gewollt oder zumindest in Kauf genommen.
Die sensationelle Dokumentation von Christoffer Guldbrandsen über Roger Stone führt tief in das verkommene Herz der politischen Machtzentrale der USA, wo Nazi-Referenzen, Sexismus und Kommunisten-Witze noch das geringste Übel sind. Die rechtsextreme Organisation Proud Boys, die staatsfeindliche Miliz Oath Keepers, Verschwörungstheoretiker Alex Jones und das rechtsradikale Fake-News-Portal InfoWars sind ebenso Begleiter Stones wie seine Fähigkeit, mit seinen Intrigen, Spins und Straftaten durchzukommen- zur Not eben mit einer präsidialen Begnadigung.
Guldbrandsens Dokumentation war eine lange Geburt, er erlitt einen Herzinfarkt, Stone war nicht immer kooperativ und ob vieler Szenen wohl auch alles andere als erfreut über das Ergebnis. Gerade deshalb wurde das augenöffnende und enthüllende Werk des Dänen, das beim CPH:DOX Weltpremiere feierte, sehnlichst erwartet. In Kopenhagen wurden etliche Screenings eingeschoben, um dem Interesse nachzukommen. Zahlreiche US-Medien berichten über den Film. Und Stone? Der unterstützt Trump bei seiner Kampagne zur Wiederwahl 2024.
A Storm Foretold
Dokumentation
DK 2023, 90 min, OmeU
Regie: Christoffer Guldbrandsen
Mehr zum Festival: cphdox.dk
Fotos: cphdox.dk