A vida é preciosa: Antigone im Amazonas

Griechische Tragödie 2.0: Die Wiener Festwochen verknüpfen die antike Erzählung des Dichters Sophokles mit realen Schicksalsschlägen der indigenen Bevölkerung Brasiliens aus dem Jahr 1996 und bringen die Geschichte als Korrelat neu ins Rollen.

Antigone im Amazonas bei den Wiener Festwochen
Foto: Philipp Lichterbeck

Die suizidale Geschichte rund um Prinzessin Antigone, die sich nicht an staatliche Gesetze hält und damit selbst von ihrem Onkel, König Kreon, zum Tode verurteilt wird, hat bedauerlicherweise nichts von ihrer Aktualität verloren. Das 442 v.Chr. verfasste Drama versteht sich in „Antigone im Amazonas” als eine Art Überbau, um Brasiliens politische Landlosenbewegung, genannt MST, als aufwühlendes Stück fürs Wiener Burgtheater zu inszenieren. Gegensätzliche Meinungen treffen sowohl in der griechischen Mythologie aufeinander, als auch im Hier und Jetzt. Die Auffassungen kollidieren. Manche Schicksalsschläge, das lehrt uns diese Parabel, neigen leider zu Wiederholungen.

Die blutigen Auseinandersetzungen von 1996 werden auf Leinwänden nachgespielt, als Protestierende von Polizisten brutal hingerichtet wurden. Erlebt das Publikum nun eine mit fiktionalen Elementen angereicherte Realität oder eine fiktive Darstellung, die viel zu schlimm ist, um real sein zu dürfen? Wer ist Freund, wer ist Feind? Die Ausnahmesituation der Bürger gegen die korrupte und rechtspopulistische Vorgehensweise des Staates, gegen die fiesen Hände des Kapitalismus, bildet den roten Faden. Als Besucher fiebert und leidet man im Stuhl des Saals mit dem Aufstand auf den Screens mit. Doch die Debatten von Kreon, Antigone, ihrem Verlobten Haimon und dessen Mutter Eurydike ergeben ein unschlüssiges Bild.

Dass beide Darbietungen Gefahrenpotenziale beheimaten und schlimme Kettenreaktionen auslösen, ist klar, doch tritt durch diesen Brückenschlag von zwei so unterschiedlichen Handlungen bloß eine narrative Verschlimmbesserung ein. Das eine würde ohne das andere auch prima funktionieren und andersherum. Frederico Araujo, der gender-nonkonform 100 Minuten Antigone mimt, sei trotzdem besonders hervorgehoben, denn sein Charakter verlangt im sichtlich alles ab. Die anderen drei Akteure, Pablo Casella, Sara De Bosschere und Arne De Tremerie, bleiben hingegen blass.

Fazit

Diese geforderte Agrarreform, die in die Annalen der Geschichtsbücher eingegangen ist, halt auch nach dem Schluss der Vorstellung weiter nach, obwohl die Inszenierung von Rau mit all den gelebten Traditionen so manche Längen hat. Rückt durch den altertümlichen Dichter aus Griechenland die Ungeheuerlichkeit dieser Angelegenheit noch stärker in den Fokus? Dieses portugiesische Gleichnis über Ausbeutung, Revolte und Repression benötigt keine zweite Ebene, um einen am Kragen zu packen. Die gesellschaftliche Fehlentwicklung funktioniert auch ohne den Antigone-Subtext bestens. Mit Haltung, mit einer Beharrlichkeit und Kompromisslosigkeit, die einen Rückzug unmöglich macht, mutiert „Antigone im Amazonas” nichtsdestotrotz zum gehaltvollen Aha-Erlebnis.

Regisseur Milo Rau liefert mit „Antigone im Amazonas” einen emotionalen, schmerzvollen wie bedrückenden Vorgeschmack. Mehr davon wird im nächsten Jahr bestimmt noch folgen. Denn 2024 übernimmt er als Intendant die künstlerische Leitung der Wiener Festwochen.

Mehr zum Stück auf festwochen.at


Wiener Festwochen

12. Mai bis 21. Juni 2023

festwochen.at
instagram.com/wienerfestwochen

Instigator. Mind reader. Fortuneteller. Everday hero. Charmer. Writer. Editor. Music lover. Film enthusiast. Aesthete.