The Never-ending Troubles
In den jahrzehntelang andauernden Troubles in Nordirland sterben bei gewaltreichen Konflikten zwischen protestantischen Unionisten und katholischen Republikanern über 3.500 Menschen, knapp 50.000 werden verletzt – großteils Zivilist*innen. Alessandra Celesias Dokumentation The Flats zeichnet ein Bild des heutigen Belfast, in dem die Gewalt noch immer nachhallt.
Joe ist neun Jahre alt, als sein Onkel von pro-britischen Loyalisten ermordet wird. Kurz danach wirft er seinen ersten Molotowcocktail. Es ist der Beginn eines Traumas, das ihn – wie viele seiner Freunde – bis heute verfolgt. Mit einer Therapeutin arbeitet er seine Vergangenheit auf, nachdem er im Alkohol keine Antworten mehr findet. In The Flats begleitet ihn Regisseurin Celesia dabei und schafft so ein tiefgreifendes Porträt einer Generation und einer Stadt, die noch heute leidet.
Ein Viertel voller Narben
New Lodge ist ein katholischer Stadtteil Belfasts, der besonders häufig Schauplatz von Straßengefechten, Brandanschlägen und Gewalt war. Noch heute ist das offensichtlich – republikanische Murals und irische Trikolore prägen das Straßenbild. Es gibt Tore an den Eingängen zum Viertel, die auch heute noch verschlossen werden – beispielsweise während der 11th Night Bonfires, die vor allem in protestantisch-unionistischen Gemeinden gefeiert werden und bei denen regelmäßig irische Nationalsymbole verbrannt werden.
Mehr als 25 Jahre nach dem Good Friday Agreement, das die Troubles offiziell beendete, sind die Spannungen in Nordirland also nach wie vor spürbar. Das Abkommen legte am Karfreitag 1998 den Grundstein für eine friedliche Machtteilung und die Anerkennung beider Nationalitäten in Nordirland. Vor allem in Belfast fühlen sich heute viele weder als Brit*innen noch als Ir*innen – sie sind Nordir*innen und wollen die Vergangenheit und die Konflikte hinter sich lassen.
Erinnerung als Inszenierung
Viele Menschen, die heute in New Lodge leben, waren früher paramilitärisch aktiv – genau wie Joe. Heute leiden sie unter Depressionen, sind desillusioniert oder nicht arbeitsfähig – genau wie Joe. Viele seiner Freunde sind gar nicht mehr am Leben, erzählt er. Die Regisseurin begleitet ihn dabei, wie er Kindheitserinnerungen nachspielt, um sie so besser verarbeiten zu können. Die künstlerisch-filmische Umsetzung sorgt dabei allerdings eher für Verwirrung als für Empathie.
Viele der Protagonist*innen der Dokumentation helfen Joe bei der Nachstellung seiner Erinnerungen. Im Film werden diese Sequenzen jedoch nicht klar gekennzeichnet, und so dauert es, bis man beispielsweise erkennt, dass das Nachbarskind Sean, das den jungen Joe mimt, auch ein eigenständiger Protagonist ist. Das nimmt dem Film wirkungsvollen Raum und kostbare Zeit.
Dass die Dokumentation viele Fragen beim Publikum aufwirft, zeigt sich im anschließenden Q&A, bei dem Produzent Jeremiah Cullinane Rede und Antwort steht. Für viele Filmgäste war die Kontextualisierung entscheidend, um den Film besser verstehen und einordnen zu können.
Frauen im Schatten des Konflikts
Celesia stellt jedoch nicht nur Joe in den Mittelpunkt ihrer Dokumentation. Mit Jolene und Angie bittet sie auch Frauen vor den Vorhang, die damals wie heute die Gemeinschaft tragen. Ihre Erinnerungen sind ein zentraler Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses und geben einen tiefen Einblick in die Seele von New Lodge.
Fazit
Alessandra Celesias Film ist ein wichtiger Versuch, Erinnerung zu bewahren, Trauma zu verarbeiten und Heilung zu ermöglichen. Sie schafft es, mit starken Protagonist*innen das Seelenbild einer Community zu zeichnen, das – obwohl manche stilistischen Entscheidungen zu hinterfragen sind – lange nachhallt.
The Flats
Regie: Alessandra Celesia
114 Minuten, Englisch, OmEu
Frankreich / Belgien / Irland / Großbritannien 2024
filmfestival linz
29 april – 04 mai 2025
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