Foto: Katia Schwingshandl

5 Bücher von Frauen, die mein 2019 geprägt haben

Bücher, die einem gefallen. Das klingt schon mal wahnsinnig subjektiv – und Überraschung: Ist es auch! Bücher, die einem gefallen, liest man meistens in der Sonne im Park, am Strand, wo der Sand gleich mit zum Lesezeichen wird, am Balkon mit Ausblick auf malerische Hinterhöfe, oder, so wie jetzt im Winter, in unmittelbarer Heizungsnähe. Bei Büchern, die einem gefallen, will man partout verhindern, dass sie jemals wieder aufhören und muss immer einen Stift dabei haben, um sich die schönsten Sätze zu markieren. Bücher, die einem gefallen, haben meistens mit einem selbst zu tun. Kein Wunder also, dass meine Lieblingsbücher von 2019 alle von Autorinnen sind. Meine (natürlich ebenso subjektiv-intuitive) Auswahl der fünf besten stelle ich hier vor.

1. Margarete Stokowski – Untenrum frei

„Alles, was ist, ist irgendwie entstanden. Heißt aber auch: Es lässt sich wieder kaputt machen.“

Etwas muss ich hier vorwegschicken: Das Buch ist schon drei Jahre alt und ich, die grundsätzlich Hypes misstraut, bin zugegebenermaßen reichlich spät auf den Fan-Zug aufgesprungen.
In „Untenrum frei“ unterlegt Stokowski ihre persönliche Geschichte der Weiblichkeit mit wissenschaftlichen und feministischen Texten. Oder doch genau andersrum? Die Autorin hat die Fähigkeit, jene Dinge auszusprechen, die in vielen von uns schlummern, ohne dass wir es geahnt hätten. Wenn sie zum Beispiel erzählt, wie sie sich als kleines Kind bei einem Sturz den Fahrradlenker zwischen die Beine rammt und ihren Schmerz nicht artikulieren kann – schlichtweg, weil sie kein passendes Wort für „untenrum“ hat – beschleicht die Leserin ein komisch bekanntes Gefühl. Denn wer kann bei diesen Dingen schon Klartext reden und sich von dem Untenrum auch obenrum freimachen? Messerschaft diagnostiziert Stokowski diese seltsame Passivität, die uns Frauen angesichts der Tatsache, wie fest verankert geschlechterspezifische Muster in unserer Gesellschaft scheinen, überfällt. Man schweigt oft, ob aus Scham oder Verunsicherung. Dabei ist dieses Manifest, das keines sein möchte, der beste Beweis: Dinge, wie sie sind, laut hinauszuschreien, wirkt! Nämlich befreiend und ansteckend! Weil sich so schnell nichts ändert, ist „untenrum frei“ auch 2020 hochaktuell. Und nicht nur ans weibliche Herz zu legen

(C) Rowohlt

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Margarete Stokowski

Untenrum frei

Rowohlt 2016, 256 S.

 

 

2. Lucy Fricke – Töchter

„Wir fuhren einfach weiter und tankten zwischendurch. So war das Leben.“

Wir sind vielleicht nicht alle Töchter, aber Väter, Väter haben wir fast alle. Ganz egal ob präsent, absent oder irgendwas dazwischen: Eine besondere Vater-Begebenheit hat wohl jede/r von uns. Auch noch mit vierzig, wie die Protagonistinnen von Frickes Roman Betty und Martha eindrücklich unter Beweis stellen.
Mit dem Ziel, Marthas Vater Kurt in eine Schweizer Sterbeklinik zu chauffieren, brechen sie zu einem absurd-grotesken Roadtrip auf, allerdings nimmt dieser eine denkbar andere Abzweigung, als anfangs gedacht…
Mit so viel Ironie wie nur möglich – die Autorin weiß sie an den richtigen Stellen zu pausieren – rauschen wir temporeich mit den beiden Frauen durch Italien und werden dabei von so schönen Sätzen begleitet, dass man lachen und weinen gleichzeitig könnte. Wenn sich etwa der todeskranke Kurt seelenruhig seine letzte(n) Zigarette(n) gönnt und damit seine Tochter zur Weißglut bringt, oder wenn die beiden Frauen auf der verzweifelten Suche nach einem Kaffee das Auto schrotten, muss man sich schon sehr bemühen, nicht laut loszuprusten. Das ist dann aber keineswegs Schadenfreude, sondern letztendlich zeigt uns Lucy Fricke mit diesem grandiosen Buch, dass es an uns liegt, wie wir das Leben sehen: Tragisch oder tragisch-komisch?

(C) Rowohlt

 

Lucy Fricke

Töchter. Roman

Rowohlt 2018, 240 S.

 

 

3. Sally Rooney – Normal People

„His appearance is like a favourite piece of music to her, sounding a little different each time she hears it“

Sally Rooney ist 28 und seit gut zwei Jahren der absolute Shootingstar des Feuilletons. Sie sei die Stimme ihrer Generation, sagt man von ihr. Und man hat Recht. Nachdem ihr erstes Buch „Gespräche mit Freunden“ im Sommer auf den deutschsprachigen Markt kam und ein Schweizer Rezensent die Irin als „aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“ bezeichnet hat, ging mit dem Hashtag #dichterdran ein Aufschrei durchs Netz, mit dem die Art und Weise, wie über Literatur weiblicher Autorinnen berichtet wird, kritisch hinterfragt wurde.
Von dieser Diskussion aber abgesehen, ist es vor allem ihr zweiter Roman, der von sich reden machen sollte. Bisher ist es noch nicht in deutscher Übersetzung erhältlich, doch es dauert sicherlich nicht mehr lange, bis man diesen unglaublich feinfühligen und subtilen Roman auch auf Deutsch in Händen halten kann. Wie schon in „Gespräche mit Freunden“ gibt es kaum eine Handlung im herkömmlichen Sinne. Viel eher wird die Beziehung zwischen Marianne und Connell über mehrere Jahre hinweg seziert, man begleitet sie beim Erwachsenwerden, einzelne Szenen werden aneinander gereiht und sie könnten an Einfühlungsvermögen reicher nicht sein. Soziale Strukturen werden sanft und mit großer Sorgfalt freigelegt, die Geschichte folgt der Dynamik des realen Lebens so schauderhaft genau, dass wir meinen, selbst mit den ProtagonistInnen befreundet zu sein. Die Sprache Rooneys ist dabei leichtfüßig und bildhaft, fast über dem filmischen Plot schwebend. So stolpert man nicht, sondern man hüpft ähnlich leichtfüßig über perfekt inszenierte Sätze wie:
„It’s funny the decisions you make because you like someone, he said, and then your whole life is different.I think we’re at that weird age, where life can change a lot from small decisions.“

Rooney als Stimme unserer Generation? Meine hat sie jedenfalls.

(C) Faber&Faber

 

Sally Rooney

Normal People

Faber & Faber 2018, 288 S.

 

 

4. Raphaela Edelbauer – Das flüssige Land

„Wir können keinen Schritt machen, ohne mit unserer Vergangenheit zusammenzustoßen. Die einzige Möglichkeit wäre, eben keinen Schritt mehr zu machen, eine vollständige Verweigerung der Zeit an sich.“

„Das flüssige Land“ ist wohl das mitunter ungewöhnlichste Stück österreichische Literatur, das in diesem Jahr hervorgebracht wurde. Zwar gehen die Meinungen der KritikerInnen recht stark auseinander, die Aufmerksamkeit war der jungen Sprachkunst-Absolventin aber sicher – schon allein, weil ihr Name auf den Shortlists für den österreichischen und deutschen Buchpreis stand.
Eine Metapher ist dann gelungen, wenn sie die Vergangenheit verändert und mehr noch die Zukunft. Edelbauers Geschichte der Physikerin Ruth, die nach dem Tod ihrer Eltern auf deren seltsames und fast nicht auffindbares Heimatdorf stößt und dort dann auf unbestimmbare Zeit verweilt, um ein Füllmittel für das den Ort zum Einsturz bringende Loch zu finden, ist eine solche. Das Loch ist nämlich der im wahrsten Sinne des Wortes unterhöhlende Nationalsozialismus, auf dessen Leichen Groß-Einland steht. Wie Detektiv/innen versuchen wir Edelbauers rätselhaften Beschreibungen auf die Schliche zu kommen, dabei kennen wir alle das Geheimnis schon lange. Allein die einzigartige manierierte Sprache der Autorin ist es wert, sich auf diese Metapher einzulassen und auch, wenn sie polarisiert: Ich garantiere dafür, dass das Thema noch nie zuvor auf diese Weise behandelt wurde.

(C) Klett-Cotta

 

Raphaela Edelbauer

Das flüssige Land. Roman

Klett-Cotta 2019, 350 S.

 

 

5. Leila Slimani – Sex und Lügen

„Für viele Männer ist eine Frau nicht mehr als eine Vagina, in die man masturbiert.“

Hinter diesem relativ allgemein gehaltenen Titel verbirgt sich Aufrüttelndes: Gesammelte Geschichten von Frauen aus der islamischen Welt, spezifiziert der Untertitel. Leila Slimani ist selbst gebürtige Marokkanerin und lebt heute als erfolgreiche Journalistin in Paris. Ihr Land hat sie jedoch nicht vergessen, im Gegenteil. Slimani ist zu so etwas wie dem Sprachrohr marokkanischer Frauen und deren Verhältnisse geworden und hat darüber hinaus auch noch ähnlich empfehlenswerte Romane („Dann schlaf auch du“ und „All das zu verlieren“) geschrieben. Mittlerweile ist sie also keineswegs bloß mehr ein Geheimtipp.
In 16 kurzen Gesprächen mit Frauen bekommen wir lebensnah geschildert, wie sich die Frauen mit der systematischen Unterdrückung unter dem Deckmantel der Religion arrangieren. Denn nichts anderes bleibt ihnen übrig. Slimani versammelt Erfahrungen von Frauen unterschiedlichster sozialer Herkünfte und zeichnet damit ein realistisches Bild einer Gesellschaft, die die Sexualität, das Begehren, ja die Gefühle von Frauen einfach verleugnet. Eine öffentliche Verdrängung, in der es nahezu unmöglich ist, aus seinen Rollen auszubrechen.
Besonders im Hinblick auf westliche Debatten ist es von unermesslichem Wert, seinen Blick auch auf andere Länder zu richten und im Einklang mit Slimanis Romanen ist dieses Buch ein absolutes Muss für all jene, die gewillt sind, sich und ihren Hintergrund in Relation zu setzen. Als Untermalung empfiehlt sich der Spielfilm „Much Loved“ von Nabil Ayuch, der sich ähnlich und wunderbar ergänzend mit der Thematik auseinandersetzt.

(C) btb

 

Leila Slimani

Sex und Lügen

btb 2018, 208 S.

Schreibt leidenschaftlich gern auf ihrem Blog lauterschweigen.wordpress.com, engagiert beim Augustin und bücherliebend auf http://www.literaturhaus.at/index.php?id=195 und in der Buchkultur.