Crossing Europe 2016: „THE BARBER AND THE BOMB“
9. Juni 2004: Köln, Kuaför (Friseur), Keupstraße. Ein „NAGELBOMBENANSCHLAG“ am hellichten Tag zerüttet nicht nur türkische Familien, Geschäftsleute und deren Beziehungen zueinander, es lässt auch Misstrauen in das Justiz und Ermittlungssystem Deutschlands wach werden. Eine Dokumentation von Andreas Maus.
Die Keupstraße in Köln ist eine sehr belebte, offenherzige Gegend, an der überwiegend türkische Familien ihre Dienstleistungen tagtäglich anbieten. Vom Juwelier, über den Bäcker bis hin zum Friseur. Ein lebendiges Alltagsleben, das Menschen verbindet. Seit dem Nagelbombenanschlag nicht mehr. Anschuldigungen, Vorverurteilungen und Misstrauen machen die Runde. Der Zusammenhalt geht verloren, jeder scheint auf sich allein gestellt zu sein. Von Seiten der Behörden wird anfangs nur „bewusst“ in „eine Richtung“ ermittelt. Die verletzten Opfer werden plötzlich zu Tätern und müssen eine siebenjährige Verhör-Totour über sich und ihre Familien ergehen lassen. Mit einmal mehr, aber meistens eher „illegalen“ Fragen, werden sie in „Zwangs-„Geständnisse getrieben, die sie aber Gott sei Dank nicht machen. Familiäre, psychische und persönliche Krisen der Opfer folgen, ohne jede Hilfe des Staates, es wird mit Selbstmord spekuliert, über Umzug oder Auflösung des Friseursalons laut nachgedacht.
Medienwirksam wird zum 10. Jahrestag des „Nagelbombenanschlags“ ein „Wiedergutmachungs-Fest“ platziert, das musikalische Größen, wie Peter Maffay in den Vordergrund und die wahren Taten in den Hintergrund rücken lässt. Da hilft nicht einmal der inszenierte „Besuch“ vom Deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauk und Presseleuten im Barbershop. Händeschütteln, für´s Foto lächeln und eine jährliche Einladung der gesamten Familie in den Bundestag machen frühere Anschuldigungen oder reißerische Medienberichte über „potentielle, türkische Täter aus der Bodybuilderszene“ nicht weg.
Das die wahren Täter aus dem “ Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) stammen, gibt man erst nach 7 Jahren zu. Sieben verdammte Jahre mit schlaflosen Nächten, Selbstmordgedanken, Ungerechtigkeitsgefühlen und mit der Ohnmacht des (Polizei-) Staates gespikt. Wer da die Hoffnung nicht aufgibt, wäre ein Wunderkind.
Die „Rekonstruktion“ des Nagelbombenanschlags und deren weitgehenden Folgen sind dem Filmemacher ANDREAS MAUS sehr gut gelungen. Basierend auf gründlichter journalistischer Recherche, Befragung und Interviews der Opfer, so wie Darstellung der Auszüge des Prozesses und Begragungen auf dem Presidalbüro durch Schauspieler, machten das Eindringen in die tiefgehende, verwobene Materie aus struktureller Fremdenfeindlichkeit überschaubarer.
Für mich persönlich ein Skandal, der ans Tageslicht geschwappt ist – und auch dorthin gehört. In den Mittelpunkt., egal ob Beate Zschäpe noch immer U2 hört oder nicht. Wie kann ein Justiz/Polizeisystem des Staates so versagen und dafür noch nicht mal personelle Konsequenzen bei den Ermittlungen begleichen?