Dürre
Foto: Oleksandr Sushko

Sturz in die Sonne

38,3 Grad wurden Ende Juli des Jahres 1921 in Genf gemessen. Ein Temperaturrekord, der den Schweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz zu Fragen inspirierte: Was, wenn die Temperatur nicht mehr sinken würde? Was, wenn es gar noch heißer würde? Und nicht zuletzt: Wie würden die Menschen darauf reagieren?

Diese Fragen verhandelte C. F. Ramuz in seinem 1922 erstmals erschienenen Roman „Présence de la mort“. Nun, über 100 Jahre nach seinem Erscheinen, sind Temperaturen von 38,3 Grad längst keine Seltenheit mehr, was den brandaktuellen Anlass für die erstmalige Übersetzung in die deutsche Sprache bietet. Die Dystopie von damals zeichnete ein düsteres Bild, das sich heute wie eine Prophezeiung liest.

„Alles Leben wird enden. Es wird immer heißer werden.“

„Durch einen Unfall im Gravitationssystem stürzt die Erde schnell in die Sonne zurück, strebt ihr entgegen, um darin zu zerschmelzen: So lautet die Botschaft. Alles Leben wird enden. Es wird immer heißer werden.“ Näher wird die Ausgangssituation im Roman „Sturz in die Sonne“ nicht geklärt, C. F. Ramuz rückt im restlichen Buch die Reaktion der Menschen in den Fokus. Diese ignorieren die Nachricht zunächst oder reden sie sich zumindest schön. Das gestaltet sich vorerst recht leicht: man ist doch hier am See, kann die Schönheit des Himmels betrachten und darf auf besonders guten Wein hoffen. Andere halten die Entwicklung gar für eine Erfindung der amerikanischen Zeitungen.

Als jedoch die stetig steigende Hitze und sich ausbreitende Dürre ihren Tribut fordern, können die Einwohner der idyllischen Stadt (die nicht zufällig an Genf erinnert) die bedrohliche Entwicklung nicht länger leugnen. Es entstehen Migrationsbewegungen in die Berge, Gewalt bricht über die Gesellschaft herein, bis schließlich Anarchie und Selbstjustiz die Menschen überrollt.

Das Steigen der Temperatur als einzige Konstante der Handlung.

Charles Ferdinand Ramuz zeigt diese Entwicklung in 30 vignettenartigen Szenen, wobei das Steigen der Temperatur die einzige Konstante der Handlung ist. Man folgt mehreren Figuren, die versuchen, die Hitze zu ignorieren, sie zu ertragen oder davor zu flüchten. Einzelne fliehen in den Selbstmord, andere in den Norden, wieder andere in die Berge. Die Hitze aber folgt ihnen.

Dem Spektakel des Inhalts mindestens ebenbürtig ist die Sprache des Romans. So verzichtet Ramuz nicht nur auf Hauptfiguren, an die man sich heften kann, auch die stilistische Form der 30 Episoden variiert und reicht dabei vom Stil mündlicher Erzählungen bis hin zu einem poetisch philosophischen Duktus der Sprache.

Die Idee, die vor über 100 Jahren den Anlass für einen dystopischen Roman bot, ist heute Realität.

In „Sturz in die Sonne“ zeichnet Charles Ferdinand Ramuz ein ernüchterndes Bild, das sich beinahe prophetisch liest: Er beschreibt das Verhalten von Menschen angesichts einer Katastrophe, die sich nicht plötzlich ereignet, sondern langsam, schleichend daherkommt. Die Idee, die vor über 100 Jahren den Anlass für einen dystopischen Roman bot, ist heute Realität und ruft während dem Lesen unweigerlich Gedanken an den aktuellen Umgang mit der Klimakrise hervor. Nicht selten muss man sich als Leser*in dieses Romans in Erinnerung rufen, dass dieser Text trotz seiner traurigen Aktualität über 100 Jahre alt ist und Ramuz weder von der Bedrohung des Klimawandels noch vom Umgang damit gewusst haben konnte. Man könnte sich gar die Mühe machen und die Reaktionen der Romanfiguren mit Aussagen auf Anti-Klimawandel-Demos oder einschlägigen Postings unter Social-Media-Beiträgen vergleichen. Lohnenswerter (und vermutlich auch gesünder) ist es, sich der stilistischen und sprachlichen Finesse von C. F. Ramuz‘ „Sturz in die Sonne“ hinzugeben, die es dank der raffinierten Übersetzung von Steven Wyss nun – glücklicherweise – auch in deutscher Sprache zu lesen gibt.

Anmerkung: Dieser Text wurde an jenem Tag verfasst, an dem ein neuer Oktober-Temperaturrekord in der österreichischen Messgeschichte erfasst wurde.


Sturz in die Sonne

Sturz in die Sonne

von C. F. Ramuz

Limmat Verlag
192 Seiten, Deutsch, Gebundene Ausgabe

€ 26,80
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