Klassenraum
Foto: Ivan Aleksic

„Echt­zeit­alter“: Mehr als ein aus­gezeichneter Schulroma­n

Tonio Schachinger taucht in seinem zweiten Roman „Echtzeitalter“ auf grandiose Weise in das jugendliche Leben in- und außerhalb eines Wiener Elitegymnasiums ein und wurde dafür in der vergangenen Woche zurecht mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Mithilfe einer objektiven Pro-und-Kontra-Liste errechnen Till Kokoschka, der Held des Romans, und seine Mutter, dass das Marianum für ihn die beste Option sei. Diese Institution, „die berühmteste Privatschule der Stadt“ ruft Leser*innen mit Wiener Hintergrund nicht zufällig sogleich das Theresianum in Erinnerung. In dieser Schule also, deren schönbrunnergelbe Fassade zur graugelben Rückseite hin bereits abbröckelt und deren stattliche Parkanlagen von Mauern eingefasst sind, die einen „in grauen Pastelltönen zum Horizont führenden Übergang“ darstellen, wird Till seine Gymnasialzeit und damit das Gros seiner Jugend verbringen. Umgeben ist er dabei von Mitschüler*innen, „die sich schon mit zehn so kleiden, wie sie es ihr restlichen Leben über tun werden: in grüne Polohemden und braune Segelschuhe, rosa Poloblusen und weiße Jeans.“

Jemand, der einfach zur Schule geht und irgendwann damit fertig ist

Till erkennt schnell, dass er dort nicht hingehört. So weit, so üblich für eine Romanfigur. Was ihn jedoch als Hauptprotagonisten von „Echtzeitalter“ dennoch so interessant macht: Till setzt alles daran, nicht aufzufallen, er genießt den Hintergrund. Selbst beim Ansehen der Harry Potter Verfilmungen identifiziert er sich nicht mit den Hauptfiguren, sondern stellt sich vor, einer jener Schüler*innen zu sein, „die nie namentlich erwähnt werden, die nur einmal kurz auf der Treppe an ihnen vorbeigehen, im selben Speisesaal sitzen, aber nie gegen Lord Voldemort kämpfen müssen. Jemand, der einfach zur Schule geht und irgendwann damit fertig ist.“
Die Rechnung macht er allerdings ohne seinen despotischen Klassenvorstand, „den Dolinar“. Dessen Aussehen gleicht laut seinen Schülern – ausgerechnet ­– dem von ebenjenen Lord Voldemort. Die didaktischen Methoden gleichen jedoch, um in der Harry Potter Analogie zu bleiben, eher jenen von Severus Snape. Zumindest in den ersten Teilen, wohlgemerkt. Als didaktische Mittel setzt der Klassenvorstand also neben Beleidigungen und Bloßstellungen der Schüler*innen auch auf die drastische Kürzung ihrer ohnehin sehr eingeschränkten Freizeit als Bestrafung für lückenhafte Kenntnis der heiligen österreichischen Literaturgeschichte. (*An dieser Stelle sei das Buch weniger als Handreichung für angehende Deutsch-Lehrkräfte, durchaus aber als mögliche Inspirationsquelle zur Anfertigung eines persönlichen Literaturkanons empfohlen.)

„Age of Empires 2“ – Parallelwelt und Zufluchtsort

Gequält vom sadistischen Klassenvorstand und dem frühen Tod des Vaters tut sich für Till eine Parallelwelt auf: das Computer-Strategiespiel „Age of Empires 2“. Für Till bedeutet dieses Spiel weit mehr, als Maxerl in färbigen Gewändern durch die virtuelle Welt zu steuern, Rohstoffe zu sammeln und die gegnerischen Maxerl in den virtuellen Tod zu schicken. So bringt er unzählige Stunden dafür auf, sein Spiel zu perfektionieren, studiert Stärken und Schwächen der spielbaren Charaktere und übt Spielzüge bis zur Virtuosität. Es muss wohl nicht eigens erwähnt werden, dass sich seine unermüdliche Hingabe nicht positiv auf die Sitfter-Lektüre auswirkt. Doch führt sie ihn bis in die Top Zehn der weltbesten „Age of Empires 2“ Spieler*innen und lässt ihn zu einem neuen Star der Szene werden. Diese Prominenz reicht zunächst nicht ins Innere der Marianum-Mauern, bis fatalerweise doch „der Dolinar“ davon erfährt.
Mit dem Eintauchen in die Welt des E-Sportes gelingt eine weitere der vielen Leistungen des Romans „Echtzeitalter“. Nicht nur ermöglicht es einen erfrischenden Einblick in die Welt des Gamings, sondern beschreibt auch die ambivalente Wahrnehmung von E-Sport auf eindrückliche Weise.

Die Gefahr, „cringe“ zu wirken – brillant abgewehrt

Als nicht mehr jugendlicher Autor einen Roman über die Lebenswelt von Jugendlichen zu schreiben kann ein recht gefährliches Unterfangen sein. Groß scheint das Risiko, diese Lebenswelt auch nur haarscharf zu verfehlen, nur um dann „cringe“ zu wirken (q. e. d.). Tonio Schachinger ist dies jedoch auf eindrückliche Weise geglückt. Dies mag daran liegen, dass es sich beim 31-jährigen Autor selbst um einen ehemaligen „Theresianisten“ handelt, der somit Erfahrungen aus erster Hand in den Roman einfließen lassen konnte. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich bei Tonio Schachinger schlicht um einen hervorragenden Erzähler handelt.

Ein guter, ein sehr guter Erzähler

Ruft man sich die Chronologie der Erzählung in Erinnerung, so ist man beinahe verwundert ob des Fehlens von Redundanzen oder Längen im Roman. Immerhin bildet die Erzählung einen Zeitraum von knapp über acht Jahren ab, von der Besichtigung der Schule bis zur Matura und den folgenden, in mehrfacher Hinsicht Erleichterung bringenden, Sommer. Und das in chronologischer Abfolge, wohlgemerkt. Er umfasst eine Schulzeit, die der Held des Romans bei einem späteren Treffen mit einem ehemaligen Schulkollegen folgendermaßen resümiert: „Es war die Hölle, du Idiot.“ Durch den Roman muss man sich allerdings alles andere als quälen.
Der Autor hat ihn reichlich mit feiner Ironie und zahlreichen Pointen ausgestattet sowie mit Figuren, deren Entwicklung man mit Spannung verfolgt. Zusätzlich schaffte der Autor, jüngste zeitgeschichtliche Ereignisse in den Roman einzuweben, ohne die Erzählung dorthin verbiegen zu müssen. So versammeln wir uns gemeinsam mit den Figuren fasziniert und wohl auch etwas angewidert ein weiteres Mal zur ZIB-Spezialsendung zum Ibiza-Video und fühlen mit einer ganzen Generation an Maturant*innen die Erleichterung über das Entfallen der mündlichen Matura aufgrund der bekannten Corona-Pandemie. Dass dies gelingt, dass dieser Roman so witzig wie schlau ist und dass ein solch intensives Eintauchen in mehrere Parallelwelten möglich ist, lässt auf eines schließen: Tonio Schachinger ist ein guter, ein sehr guter Erzähler.

Bewiesen hat er dies bereits bei seinem Debütroman „Nicht wie ihr“, mit dem er es 2019 bereits auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Nun wurde er mit ebendiesem für den kurzweiligen wie schlauen Roman „Echtzeitalter“ ausgezeichnet.
Und das zurecht.


Echtzeitalter

Echtzeitalter

von Tonio Schachinger

Rowohlt Verlag
368 Seiten, Deutsch, gebundene Ausgabe

€ 24,70 – jetzt bestellen

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