crossingEurope Kritik: „Ordinary People“

Aufstehen, Betten machen, Morgentoilette, frühstücken, Gewehr holen, in den Bus steigen, aussteigen, warten und exekutieren. Ab dem wievielten Schnaps ist einem der Name des Mannes, den man in wenigen Minuten erschießen wird, egal? Kann wirklich alles zur Routine werden?

Diese Frage stellt sich den BetrachterInnen, wenn sie sich in Vladimir Perisic´ „Ordinary People“ in einer fiktiven Kriegssituation wieder finden. Soldaten, darunter der junge Hauptdarsteller namens Dzoni, werden ohne jeden Hinweis auf weitere Befehle in eine menschenleere Gegend gebracht. Ihre erste Aufgabe dort? Warten! Es ist kein unbefangenes Zeit-Totschlagen, sondern ein bedrückendes Vorahnen. Nicht enden wollende Kameraeinstellungen zeigen das, was Dzoni sieht. Wolkenformationen, in der schier unerträglichen Hitze schwitzende Soldaten, abbrennende Zigaretten. Es tut sich nichts und gerade dieses Nichts beunruhigt. Als BetrachterIn beginnt man, sich mit Dzoni zu identifizieren, weil man genau wie er im Unklaren darüber gelassen wird, was kommt. Man wartet gemeinsam mit ihm. Worauf?

Dzoni, zwar unter Kameraden, aber doch allein, bekommt auf seinen vorsichtigen Versuch, doch irgendwie an Informationen zu kommen, nur eine Antwort: „Frag nicht so viel!“. Erst eine gefühlte Ewigkeit später der erste Hinweis. In einer Baracke werden Dzoni und die anderen darin unterwiesen, wie eine Exekution durchzuführen sei. Sollen wirklich nur sie lernen? Denn wie in einem Lehrvideo ist der Blickwinkel , aus dem diese Szene gefilmt wurde, so gewählt, dass die BetrachterInnen und nicht die Soldaten die beste Sicht auf das Geschehen haben.

Weigern
Der bis dahin naive Dzoni erkennt, was in Kürze von ihm verlangt werden wird. Doch seinem „Ich kann nicht“ wird keine Beachtung geschenkt. Er folgt den erfahreneren Kollegen auf ein Feld, wo bereits Männer warten – kniend – für jeden Soldaten ein Unbekannter. Laden, zielen und schießen.

Wegesehen
Dzoni schließt die Augen und drückt ab. Sein Unbekannter zuckt noch, als er die Augen wieder öffnet. Ein Kamerad greift ein und versetzt dem Schwerverletzten den tödlichen Schuss.

Und doch schießen
Verstört, aber außer Stande über das Erlebte zu sprechen, sucht Dzoni die Abgeschiedenheit. Doch wir BetrachterInnen sind immer dabei. Als der zweite Laster mit Unbekannten eintrifft, geht Dzoni professioneller vor. Diesmal sieht er nicht weg und trifft. Um die Hemmschwelle zu senken und den Abzug leichter betätigen zu können, wird Schnaps durch die Runde gereicht.  Es scheint zu wirken, denn bei der dritten „Runde“ sucht sich Dzoni sein Opfer selbst aus – ein junger Bub wird von ihm aufs Feld getrieben und hingerichtet – exakt in der Art, die er gerade erst erlernt hat und die ihm noch wenige Momente zuvor so schwer gefallen ist.

Der Reihe nach treffen Laster mit Unbekannten ein. Alle werden exekutiert: der alte Mann, dem Dzoni eine Zigarette geboten hat, der junge Mann, der Widerstand geleistet hat, der Bub, der eigentlich gar nichts getan hat. Und am Abend steigen die Soldaten wieder in den Bus, gleich den Arbeitern die nach Ende ihrer Schicht das Fabriksgebäude verlassen. Zurück bleiben die Leichen der Unbekannten und die Frage: „Hast du mitgezählt?“.

Fazit
rating_5_points
Auf eindringliche und bedrückende Art und Weise ist es Vladimir Perisic gelungen, die BetrachterInnen in die Handlung zu ziehen, sie in eine unerträgliche Wartesituation zu führen und sie abwechselnd mit Dzoni und den Unbekannten mitfühlen zu lassen. Kameraführung und die alles beherrschende Stille unterstreichen die Grausamkeit der Situation.

Im Film, der alles andere als eine Dokumentation sein will, wird aufgezeigt, dass Krieg, Autoritätshörigkeit und die Unfähigkeit, „Nein“ zu sagen, selbst menschenverachtendste Handlungen zur Routine werden lassen können. Es mag naives Wunschdenken sein,  wenn man hofft, dass in der Realität der Weg vom Widerstand hin zur Hinnahme nicht so schnell passiert, wie es in „Ordinary People“ der Fall ist.