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Crossing Europe 2022: Nelly & Nadine

Am Weihnachtsabend 1944 beginnt im Konzentrationslager Ravensbrück eine besondere Liebesgeschichte. Hier lernen sich Nelly Mousset-Vos, eine belgische Opernsängerin, und Nadine Hwang, die in Madrid geborene Tochter eines chinesischen Diplomaten, kennen. Allen Widrigkeiten zum Trotz ist das der Beginn einer langen, liebevollen Beziehung, die auch nach der Befreiung der beiden Frauen aus dem KZ bis zu Nadines Tod 1972 anhält.

Regisseur Magnus Gertten begleitet in der Dokumentation „Nelly & Nadine“ nun Nellys Enkelin Sylvie dabei, sich dem jahrelang unberührten Vermächtnis der Großmutter in Form von Tagebüchern, Filmen und Fotografien zu stellen und sich mit der schmerzhaften Familiengeschichte auseinanderzusetzen – die Beziehung der beiden Frauen wurde innerfamilär nämlich niemals thematisiert.

Als Nelly an Weihnachten 1944 von anderen Gefangenen des Konzentrationslagers Ravensbrück gebeten wird, Weihnachtslieder zu singen, ist auch Nadine unter den Zuhörerinnen. Sie wünscht sich ein Lied aus „Madame Butterfly“. Nelly singt ”Un bel di vedremo” -eine Arie über das Warten auf eine geliebte Person. Es ist der Beginn ihrer Liebesgeschichte. Nelly wird kurze Zeit später in ein anderes KZ verlegt. Die beiden brauchen nach Kriegsende und Befreiung noch einige Monate, um sich wiederzufinden. Dann beschließen sie, das restliche Leben miteinander zu verbringen und wandern nach Venezuela aus, um die Schrecken des Krieges so weit wie möglich hinter sich zu lassen.

Jahrelang stand die Kiste mit Erinnerungen an Nellys und Nadines Leben ungeöffnet am Dachboden von Nellys Enkelin Sylvie.

Jahrzehnte später, Nelly und Nadine sind schon lange nicht mehr am Leben, steht Nellys Enkelin Sylvie vor einer großen Kiste auf ihrem Dachboden. Darin befindet sich das Vermächtnis ihrer Großmutter – Tagebucheinträge aus Zeiten des Krieges, Film- und Fotoaufnahmen aus den glücklicheren Zeiten danach in Venezuela. Das Archiv ist unberührt, über 20 Jahre stand die Kiste verschlossen auf dem Dachboden. Sylvie konnte sich nie überwinden, die Kiste zu öffnen. Einfühlsam begleitet der Film Sylvie über ein Jahr lang bei dem schmerzhaften Aufarbeitungsprozess der Familiengeschichte. Das Leben der Großmutter, vor allem aber ihre lesbische Beziehung, wurde in der Familie nie angesprochen, da vor allem Nellys Tochter Claude, Sylvies Mutter, nicht mit der Beziehung zurecht kam. Durch die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte kann Sylvie Nelly nun endlich ein Stück Identität zurückgeben und ihr Leben würdigen.

Hintergründe

Auf dieser Aufnahme vom 28. April 1945 erkannte Sylvie Nadine, die Partnerin ihrer Großmutter, wieder.

Regisseur Magnus Gertten schildet in ruhigen und einmalig schönen Bildern die emotionale Reise einer gesamten Familie und bezieht dafür viele verschiedene Quellen mit ein. Ausgangspunkt dieser Dokumentation waren Aufnahmen aus Malmö vom 28. April 1945, als Tausende KZ-Überlebende nach ihrer Befreiung vom schwedischen Roten Kreuz evakuiert wurden und ihre Ankunft von Nachrichtenfotografen dokumentiert wurde. Das Material inspirierte Gertten zu seiner „28.-April-Trilogie“, in der er die Geschichte der abgebildeten Personen recherchierte. Nach „Harbour of Hope“ (2011) und „Every Face has a name“ (2015) ist „Nelly & Nadine“ nun der dritte und letzte Teil der Trilogie. Sylvie kam nach einem Screening des zweiten Films auf den Regisseur zu, nachdem sie in den Aufnahmen Nadine, die Partnerin ihrer Großmutter, wiedererkannt hat. Das war der Beginn ihrer Zusammenarbeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sylvie das Archiv noch nicht gesichtet und nahm dies zum Anlass, sich endlich ihrer Geschichte zu stellen.

FAZIT

Die Dokumentation ist eine behutsame Arbeit über die Bedeutung des Erinnerns im persönlichen wie kollektiven Rahmen, spart aber leider die Vorgeschichte der beiden Frauen etwas aus. Das ist vor allem unter dem Aspekt schade, dass Nelly ja schon vor dem Krieg und dem Konzentrationslager verheiratet war und ihre zwei Töchter geboren hatte. Da Enkelin Sylvie nun Protagonistin des Films ist, wäre auch die Geschichte ihrer Mutter zumindest erwähnenswert gewesen.

Nelly & Nadine

Magnus Gertten
Schweden / Belgien / Norwegen 2022
92 Minuten
Französisch / Englisch / Schwedisch / Spanisch OmeU


Crossing Europe 2022

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filmfestival linz // 27 april – 02 mai 2022
www.crossingeurope.at

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Fotos: Crossing Europe

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