Wer wir einmal sein wollten
Foto: Lukas Allmaier

Wer wir einmal sein Wollten

Anna arbeitet hart für ihre Unabhängigkeit, mit einem unerwarteten Besuch von ihrem Bruder, zerbröckelt diese nach und nach. Özgür Anil porträtiert mit seinem Langspieldebüt den Drahtseilakt zwischen Autonomie und familiäre Verpflichtungen.

In einem Aufwischen, würden wir hier in Linz sagen, hat Özgür Anil seinen Abschluss an der Filmakademie Wien gemacht und zeitgleich auch seinen ersten Langspielfilm geschaffen. Alle Beteiligten arbeiteten ehrenamtlich an dem Filmprojekt, was dieses umso besonderer macht.

Der Traum von Unabhängigkeit

Hinter dem Debütwerk verbirgt sich die Geschichte von Anna (gespielt von Anna Suk). Aktuell arbeitet Anna in einer Schauspielschule und holt in Form von Abendkursen ihre Matura nach. Ihr Ziel ist ein Studienabschluss in Jus. Schon vor längerer Zeit hat sie sich von ihrer problematischen familiären Situation losgelöst und ihr eigenes Leben Stück für Stück aufgebaut. Früher war ihr Traum selbst Schauspielerin zu werden, der Traum wurde nun von etwas „praktikableren“ abgelöst. Umgeben von Schauspielstudent*innen wird sie aber regelmäßig mit ihrem Kindheitstraum konfrontiert. Während sie die Student*innen beim Proben betreut, wird sie ständig daran erinnert, wer sie einmal sein wollte.

Anna wird als eher schüchtern, wortkarg und distanziert porträtiert. Sie wirkt erschöpft, erschöpft von dem Streben nach Autonomie. Sie hat schon viel erreicht, eine eigene Wohnung, eigenes Einkommen und eine gute Ausbildung. Anna Suk spielt die gleichnamige Rolle mit einer sehr monotonen Gefühlstemperatur und nur zum Schluss schenkt sie uns ein Lächeln.

Soziale Absicherung oder künstlerische Zukunft

Zu Beginn ist sie in einer losen Beziehung zu dem Regie-Studenten Konstantin (gespielt von Gregor Kohlhofer). Konstantin trägt natürlich Rollkragenpullover und repräsentiert im Film die avantgardistische Kunstszene, den Luxus sich der Kunst völlig widmen zu können. Es scheint, als hätte er alles, ein Standing in der Kunstszene als junger aufstrebender Regisseur, der auf dem Sprung nach München ist, um dort seine Karriere in der Theaterbranche weiter auszubauen. Natürlich lehnt jemand, der Kitsch auf der Bühne verachtet, auch Labels in der Beziehung ab. So ignoriert bzw. belächelt er den Wunsch von Anna, die Beziehung offiziell zu machen. Ein Austausch von Zuneigung und Intimität zwischen den beiden findet somit weiterhin im geheimen statt. Als Zuschauer*in ist man verleitet, hier anzunehmen, dass Anna in der Beziehung instrumentalisiert wird für bessere Rahmenbedingungen auf der Schauspielschule. Unklar ist auch, ob Anna die einzige „Freundin“ ist.

Auf der anderen Seite gibt es auch noch ihren Freund aus Kindheitszeiten Jakob (gespielt von Phillipp Laabmayr), mit dem sie durch den Maturakurs wieder in Kontakt ist. Jakob kennt Anna und ihre Familie sehr gut und teilt mit ihr eine ähnliche Vergangenheit. Jakob wird als zielstrebig, ehrlich, fleißig und empathisch dargestellt. Als Vertreter der Arbeiterklasse kann seine Rolle als Metapher für die neue Zukunft gesehen werden.

Wer wir einmal sein wollten … und was dafür gesorgt hat, dass wir es nicht geworden sind

Mit einem blauen Auge und aufgeplatzter Lippe taucht plötzlich ihr Bruder Patrick (gespielt von Augustin Groz) bei ihrer Arbeit auf und bring Annas neue Welt mit einem Schlag ins Wanken. Er hat Schulden und seine Gläubiger verfolgen ihn. Patrick stand noch nie auf eigenen Füßen, er hat sich bis jetzt immer von der Mutter oder Freunden aushalten lassen. Seine Talente liegen klar darin, Scheiße zu bauen und andere dafür geradestehen zu lassen. Er hat nie gelernt für sich selbst Verantwortung zu übernehmen oder langfristig einen Job zu behalten. Auch wenn sich Anna zu Beginn wehrt, hier die „Obsorge“ zu übernehmen, kann sie am Ende doch nicht Nein sagen uns sieht sich als Schwester für ihn verantwortlich.

FAZIT

Özgür Anil hat mit seinem Film meiner Meinung auch das Thema der durch die Gesellschaft erzwungenen bzw. erwarteten Verantwortungsübernahme ausgezeichnet dargestellt. Natürlich verlangt man von Anna, dass sie ihrer Rolle als Schwester gerecht wird und ihren Bruder in der Not unterstützt. Teilweise wird Anna im Film mit Unverständnis konfrontiert, wenn sie ihre eigenen Grenzen aufbaut. Der Regisseur spielt mit dem Gefühl des schlechten Gewissens und appelliert an das Helfersyndrom. Der innere Konflikt zwischen Familie und eigenen Bedürfnissen wird von Anna Suk exzellent gut umgesetzt. Der Film zeigt auf eine sehr klare Art und Weise, wie schnell sich Hoffnungen in Luft auflösen können, wenn diese mit der Realität korrelieren. Es wird verbildlicht, wie schnell die soziale Frage bzw. die Existenzsicherung, der Kunst den Nährboden rauben kann und somit philosophische bzw. künstlerische Ambitionen im Keim erstickt.

Der Bindungsauf- und abbau zwischen den beiden Geschwistern fungiert als zentrales Element im Film und lässt uns als Zuschauer*innen über die eigenen Beziehungen reflektieren. Zu Recht hat hier Schauspieler August Groz für seine Leistung eine lobende Erwähnung bei der Preisverleihung bekommen. Der Film ist meiner Meinung sehr gelungen und stimmig – mit der Ausnahme des kleinen Mädchens, welches vermutlich als Stilmittel eingesetzt wurde, aber vom Regisseur beim Filmgespräch nicht weiter erklärt werden konnte. Ob man den Film in die Schublade des Coming-of-Age geben kann, sind sich Regisseur und Presse noch nicht einig, Fakt ist jedoch, dass es sich hier um ein gelungenes Erstlingswerk handelt und wir gespannt sind, was wir von Özgür Anil und den Schaupieler*innen wie Anna Suk oder Augustin Groz noch erwarten dürfen.


Wer wir einmal sein Wollten

Spielfilm
AT 2023, digital, 82 min, OmeU
Regie, Buch: Özgür Anil
Mit: Anna Suk, Augustin Groz, Gregor Kohlhofer, Phillipp Laabmayr, Maya Unger


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